Brüssel

Interview mit früherem Vier-Sterne-General: Ist die Nato nicht mal mehr bedingt abwehrbereit?

Nach dem Mauerfall schien der Ost-West-Konflikt beendet. Doch jetzt droht ein neuer Zusammenstoß von Nato und Russland in Osteuropa. Auf Putins Expansionsdrang hat das westliche Militärbündnis mit der Verlegung von Truppen in den Osten reagiert. Längst überfällig, findet Helge Hansen. Der frühere Vier-Sterne-General hält im Interview mit unserer Zeitung einen Angriff Russlands auf die baltischen Staaten jederzeit für möglich. Foto: Fotolia
Nach dem Mauerfall schien der Ost-West-Konflikt beendet. Doch jetzt droht ein neuer Zusammenstoß von Nato und Russland in Osteuropa. Auf Putins Expansionsdrang hat das westliche Militärbündnis mit der Verlegung von Truppen in den Osten reagiert. Längst überfällig, findet Helge Hansen. Der frühere Vier-Sterne-General hält im Interview mit unserer Zeitung einen Angriff Russlands auf die baltischen Staaten jederzeit für möglich. Foto: Fotolia

Die Nato befindet sich in einem erbärmlichen Zustand, beklagt Helge Hansen. Und der frühere Vier-Sterne-General muss es wissen. Von 1994 bis 1996 war der 80-Jährige als Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa Mitte der höchste deutsche Militär bei der Nato. Bis heute ist Hansen Berater in Brüssel. Sein düsteres Szenario: Ein Übergriff Russlands auf die baltischen Staaten ist jederzeit möglich. Im Gespräch mit unserer Zeitung fordert er deshalb höhere Verteidigungsausgaben.

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Russland hat sein Militärbudget in den vergangenen zehn Jahren knapp verdoppelt. Viele Nato-Staaten in Osteuropa haben nachgezogen. Paranoia? Oder besteht eine echte Bedrohung durch Putin?

Also für die baltischen Staaten in jedem Fall. Was Russland in Georgien, auf der Krim oder in der Ukraine getan hat, könnte sich dort jederzeit wiederholen. Und die Nato könnte nichts tun. Sie stünde dann vor der Frage, einen Angriff hinzunehmen oder Krieg zu führen. Nur: Wenn Russland den Finnischen Meerbusen zumacht, kommt kein Schiff mehr durch. Und auch kein Flugzeug, denn Moskau verfügt über das beste Luftabwehrsystem der Welt. Das hat seinen Sitz in Kaliningrad, dem ehemaligen Königsberg (Ostpreußen). Dagegen hat die Nato kein Mittel.

Wie schätzen Sie die russische Regierung ein? Würde sie ein derart hohes Risiko eingehen?

Russland hat über 40 Jahre bewiesen, dass es höchst rational handelt. Das Land ist extrem risikoscheu. Und deshalb wären im Baltikum ständige alliierte Truppen in einer Größenordnung von 5000 bis 10 000 Mann als Stolperdraht ausreichend. Dann hätte Russland bei einem Angriff auch Krieg mit Amerika. Und Putin hätte die gesamte Nato am Hals. Ohne ständige alliierte Truppen sieht das anders aus.

Die USA wollen jetzt eine Brigade mit 4200 Mann nach Osteuropa verlegen. Nur ein Symbol?

Nein. Aber Sie müssen mal schauen, was Russland allein so alles rund ums Baltikum aufgefahren hat. Da sind rund 35 000 Mann direkt an den Grenzen stationiert.

Moskau hat angekündigt, auf die Verlegung der Brigade eine asymmetrische Antwort zu geben. Was könnte sich dahinter verbergen?

Es könnte bedeuten, dass Moskau die Zusammenarbeit in Syrien aufkündigt. Russland könnte auch wieder mehr Truppen in die Ukraine verlegen. Da gibt es gewisse Anzeichen. Putin könnte auch internationale Gremien blockieren.

Aber viel wahrscheinlicher als ein direkter Angriff ist ja eine hybride Strategie unterhalb der Schwelle eines offiziellen Krieges.

Ja, das ist die Gefahr schlechthin. Dann hätten wir einen Bürgerkrieg, so wie in der Ukraine. Dann käme Artikel 4 ins Spiel – also kein Bündnisfall mit der Beistandspflicht aller Partner. Dann würde die Nato nicht eingreifen. Wenn doch, sind die russischen Streitkräfte drin. Und die sind bekanntlich nur 80 Kilometer von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt, die westlichen Nato-Staaten hingegen 1500 Kilometer. Man könnte dann höchstens die baltischen Staaten unterstützen. Etwa mit Sensoren, die an der Grenze zu Russland abgeworfen werden. Dann wüsste man genau, wer alles wo reingeht. Und Nato-Staaten könnten den Balten Drohnen zur Verfügung stellen, mit denen gezielt Führungsspitzen der Aufständischen ausgeschaltet und – wenn nicht anders möglich – auch getötet werden könnten. Das würde dem Ganzen womöglich die Spitze nehmen.

Allein in Estland sind 27 Prozent der Bevölkerung Russen. Wie hoch ist die Gefahr, dass Putin die Minderheiten instrumentalisiert?

Ich bin oft im Baltikum und habe mit vielen estnischen Offizieren gesprochen. Die sagen mir: Die Russen wollen nicht wieder zu Russland gehören. Aber sie sagen auch, dass sie Moskau die Treue halten. Man hat ja den großen Fehler gemacht, sie nicht zu lettischen, litauischen oder estnischen Staatsbürgern zu machen. Was den Balten Sorgen macht, ist, dass es eine Unmenge an russischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in ihren Ländern gibt. Das sind aber eigentlich schlafende Organisationen. Und dann sitzen Russen auch überall in den Administrationen. Sie sind ja auch gewählt. Aber wie die sich in einer Krise als russische Staatsbürger verhalten, darauf haben die Balten keinerlei Einfluss.

Eine gezielte Unterwanderung? Sind das die Methoden des alten KGB-Mannes Putin?

Natürlich. Subversiv. Und Putin hat immer klar gemacht, dass er die russischen Minderheiten schützen will. Wenn baltische Regierungen oder die Nato massiv gegen sie vorgehen sollten, sind die Russen sofort drin.

Gehört auch gezielte Desinformation zum Repertoire Putins?

Sie müssen sich doch nur mal anschauen, welche gezielte Propaganda Moskau gegen Deutschland und die Kanzlerin betreibt. Da ist der Fernsehsender „Russia today“ nur die Spitze des Eisbergs. Etwa die Lawrow-Geschichte von der angeblichen Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens mit russischen Wurzeln. In diesem psychologischen Krieg wird mit bewussten Falschmeldungen gearbeitet.

Was treibt Putin an?

Russland leidet an einem jahrhundertealten Minderwertigkeitskomplex. Putin schlägt immer dann zu, wenn der Westen mit sich selbst beschäftigt ist. 2008 in der Finanzkrise traf es Georgien, 2014 mitten in der Griechenland-Krise die Krim. Diese Zusammenhänge werden bei uns aber nicht gesehen. Russland wartet immer auf eine Schwäche des Westens. Putin hat nämlich gar keine Angst vor der Nato, wie oft behauptet wird. Vielmehr will er keine freiheitlichen, rechtsstaatlichen und prosperierenden Staaten direkt in seiner Nachbarschaft haben. Die wären ja Schaufenster für die Russen. Wir müssen uns darauf einstellen, dass Putin auch die nächste Schwächephase des Westens wieder ausnutzen wird.

Klingt alles ziemlich bedrohlich. Unterschätzen wir die Gefahren?

Also, ich sage immer: Wir in Deutschland brauchen keine Angst vor einem Krieg zu haben. Niemand muss sich unter dem Tisch verstecken. Hier passiert nichts. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass wir uns in einem Dilemma befinden. Denn wir sind beistandsverpflichtet bei den baltischen Staaten, wenn es zu einem russischen Angriff kommt.

Lange galt die Maxime, Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Müssen wir uns wieder verstärkt Europa zuwenden?

Also Europa war ja praktisch ausgeblendet. Und das sage ich nicht vorwurfsvoll. Denn die Nato hatte ja einen Partnerschaftsvertrag. Doch jetzt gibt es wieder einen Gegner, der notfalls auch Grenzen verletzt. Das ist ein Faktum. Insofern muss die Nato natürlich im Dialog mit Russland bleiben. Aber es muss auch klar gemacht werden, dass Putin keinen Freiritt in Europa hat. Dazu müsste die Nato jedoch militärische Mittel haben. Sonst ist das eine leere Drohung. Anders kriegen Sie Putin nicht in die Knie.

Aber die EU-Wirtschaftssanktionen haben Russland doch geschwächt.

Wer sagt, bei Wirtschaftssanktionen gibt es irgendwann soziale Unruhen, liegt vollkommen falsch. Russen putschen nicht. Das kennen die gar nicht.

Wie sieht es denn mit der Schlagkraft der Bundeswehr aus? Wäre sie im Ernstfall wenigstens noch bedingt abwehrbereit?

Nein, noch nicht mal die Nato ist noch abwehrbereit. Das muss man mal ganz klar sagen. Das wird nur nicht zur Kenntnis genommen. Denn es gibt eine absolute Asymmetrie, was die Rüstung anbelangt. Russland hat praktisch seine gesamte Armee umgegliedert und operiert jetzt in kleineren Einheiten. Dazu ist das Militär vom Divisions- auf das Brigadesystem übergegangen. Heute sind die Truppen darauf eingestellt, an der Peripherie schnell einzugreifen und zuzuschnappen. Das haben wir auf der Krim gesehen, wäre aber auch jederzeit in Weißrussland oder im Baltikum möglich. Zudem ist die Armee hochmodern ausgerüstet. Der Westen hat dagegen fast nichts getan. Die Nato hat katastrophal konventionell abgerüstet.

Müsste Deutschland also noch deutlich mehr in die Verteidigung stecken, als es Ursula von der Leyen bisher angekündigt hat? Das wäre keine populäre Entscheidung.

Deutschland ist ja ein sehr seltsames Gebilde. Eine Wirtschaftsmacht und gleichzeitig ein militärischer Zwerg. Das hat ja auch seine historischen Gründe. Aber kein Land hat so stark abgerüstet wie Deutschland. 1990 verfügte die Bundeswehr noch über 330 Kampfbataillone. Wissen Sie, wie viele es heute sind? Gerade mal noch 34. Oder nehmen wir mal die Tornados. Die sind doch zum großen Teil nicht einsatzbereit, weil die Industrie keine Anschlussaufträge mehr für Ersatzteile erhalten hat. Das geht dann nicht über Nacht. Wenn die Regierung das nicht ändert, wird Deutschland langfristig von Russland erpressbar. Ich denke, dass der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt von derzeit 1,2 auf 2,5 Prozent erhöht werden könnte.

Die Amerikaner verlegen ihren militärischen Schwerpunkt zunehmend nach Asien. Welches konventionelle Abschreckungspotenzial hätte Europa denn noch, so ganz ohne die USA?

Gar keins. Wir haben da nicht viel Butter bei die Fische zu geben. Europa wäre im Ernstfall wohl zum Nichtstun verurteilt, was katastrophale politische Folgen hätte. Um Putin wirksam von einem Konflikt mit der Nato abzuschrecken, müsste das Bündnis über ein konventionelles Abschreckungspotenzial verfügen, das ihn mit dem Risiko der Beseitigung seines Regimes konfrontiert. Der ist ja nun mal ein Diktator. Wenn auch ein rationaler. Aber man hat ja in Georgien, auf der Krim und in der Ukraine gesehen, dass der Westen nichts machen kann. Wenn der Lukaschenko in Weißrussland sterben sollte, wird Putin auch dort einrücken.

Wir sollten es uns also besser nicht mit den Amerikanern verscherzen.

Die USA hatten mal 300 000 Mann in Europa stehen. Heute sind es 30 000. Damit muss deren Oberbefehlshaber in Europa nun so tun, als wären es noch so viele wie früher. Deshalb lässt er die Kompanien rotieren, um den Eindruck zu erwecken: Die Amerikaner sind überall. Sind sie aber nicht.

Benötigen wir also nicht dringend eine Europaarmee?

Nein. Dann bräuchten wir ja eine europäische Regierung, die über den Einsatz entscheidet. Oder können Sie sich vorstellen, dass es da einen Konsens zwischen den 28 EU-Staaten gibt? Die können sich doch noch nicht mal auf die Krümmung von Bananen einigen.

Herr Hansen, Sie sind ja immer noch Berater der Nato. Wie hat das Bündnis auf die Annexion der Krim reagiert: Gedemütigt?

Mit politischer Schockstarre vor allem bei denen, die gehofft haben, dass Russland den Verträgen von Helsinki folgt. Dazu gehörte übrigens auch ich. Die Russen als Partner also. Aber davon kann jetzt keine Rede mehr sein.

Aber hat der Westen nicht auch Putin provoziert, indem sich Nato und EU immer weiter nach Osten ausgebreitet haben?

Sollten wir Polen, Balten oder Tschechen etwa sagen: Ihr dürft nicht beitreten? So etwas ist – entgegen aller Gerüchte – nie zugesagt worden. Über das Ukraine-Abkommen der EU kann man sich sicher trefflich streiten. Aber nicht das Abkommen selbst war falsch, sondern wie das gemacht worden ist. Man hätte zumindest mit den Russen verhandeln müssen.

Besteht denn wenigstens die Hoffnung, die Russen über die Allianz gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien wieder einzubinden?

Nein. An dem Mann Assad selbst ist Putin überhaupt nicht interessiert. Aber er muss dessen System erhalten, um seinen Marinestützpunkt zu sichern. Das ist Geostrategie. Deshalb hat er auch in erster Linie die syrische Opposition bekämpft und nicht den IS. Genf wird scheitern. Es wird keinen Regimewechsel geben.

Das Gespräch führte Dirk Eberz


Helge Hansen (80)
war der ranghöchste deutsche Militär bei der Nato. Von 1994 bis zu seiner Pensionierung 1996 war der Vier-Sterne-General Oberbefehlshaber der Alliierten Streitkräfte Europa. Zuvor war er Inspekteur des Heeres und Chef des III. Korps in Koblenz. Auch im Ruhestand hat er noch Lehraufträge inne. Von 1997 bis 2012 hielt er Seminare für Generäle und Admiräle sowie für Stabsoffiziere ab. Schwerpunkt waren dabei Operative Führung und Operative Planung. Darüber hinaus lehrte Hansen als Dozent am Joint Command and Staff College in Großbritannien, am Canadian Forces College, an der Österreichischen Akademie für Landesverteidigung und an der Führungsakademie der Bundeswehr. 2003 erhielt er die Ehrendoktorwürde des Royal Military College of Canada im Fachbereich „Militärwissenschaften“. Während seiner Dienstzeit musste Helge Hansen 23 Mal umziehen. Heute wohnt er in Urbar bei Koblenz und ist immer noch als Berater bei der Nato tätig.