Hamburg

Im Interview: Dalai Lama: Gewalt ist eine Methode von gestern

Dalai Lama
Der Dalai Lama. Foto: DPA

Seine Waffen sind Worte und Gebete: Am Samstag ist der Dalai Lama wieder einmal zu Besuch in Hamburg. Im Vorfeld sprachen wir mit dem geistlichen Oberhaupt der Tibeter über die Zukunft seiner Heimat und die Kriege in der Welt. Auch für die Unterdrücker seines Volks, die kommunistischen Machthaber in Peking, sagt der Dalai Lama, betet er: „Besonders die Menschen, die Ärger in sich tragen, die Tibet und mir gegenüber negativ eingestellt sind, für sie bete ich besonders.“

Lesezeit: 5 Minuten
Anzeige

Wie ist es derzeit um die Menschenrechte in Tibet bestellt?

Schwierig. Sehr schwierig. Unter den chinesischen Funktionären gibt es noch viele Betonköpfe, und das in wichtigen Funktionen. Diese Hardliner glauben, alle Probleme lösen zu können durch Gewalt und Unterdrückung. Das ist völlig falsch und unrealistisch. In Tibet wird nun schon seit 60 Jahren Gewalt angewendet. Aber mehr Gewalt bewirkt auch mehr Widerstand. Allerdings gibt es Anzeichen dafür, dass ein Umdenken einsetzt bei der chinesischen Öffentlichkeit wie auch bei einigen politischen Führern, dass die aktuelle Politik der Unterdrückung kontraproduktiv ist. Es wird über einen realistischeren Ansatz nachgedacht. Inzwischen jedoch leiden die Menschen in Tibet erheblich. Nicht im Sinne von Hunger oder ähnlicher Not, sondern psychisch. Angst, übermäßige Furcht, ein Übermaß an Trauer. Deshalb die Selbstverbrennungen.

Wie sehen Sie diese Akte der Selbstzerstörung?

Das ist natürlich traurig, zutiefst traurig. Diese Aktionen sind dramatisch. Ich weiß nicht, wie sehr dies die Betonköpfe beeinflusst. Es gibt mehr Wut, mehr Unterdrückung, und in einigen Fällen werden Familienmitglieder verhaftet. Das ist ein sehr heikles politisches Thema. Ich habe mich seit 2011 aus der politischen Verantwortung zurückgezogen. Außerdem manipulieren die Hardliner in China alles, was ich sage. Die halten mich für einen Dämon. Deshalb müssen sie dem Dämon jedes Wort im Mund herumdrehen (lacht). Ich schweige lieber. Wenn ich spreche, dann sind das Gebete, nur Gebete.

Sie verwenden oft das Wort Achtsamkeit. Warum ist dies so wichtig?

Den materiellen Werten wird zu viel Bedeutung beigemessen. Die materiellen Werte können aber unseren psychischen Stress, unsere Ängste, Wut oder Frustration nicht verringern. Wir müssen jedoch unsere mentalen Belastungen, Stress, Furcht, Ängste oder Frustration überwinden. Deshalb brauchen wir eine tiefere Ebene des Denkens. Das verstehe ich unter Achtsamkeit, also das tiefgründige Denken und Fühlen, ist hier sehr wichtig. Sie ist unabhängig davon, ob jemand gläubig oder ungläubig ist. Das spielt keine Rolle, wir sind alle nur Menschen. Mit den gleichen Gefühlen und einer ähnlichen Intelligenz. Einige unserer Gefühle sind sehr, sehr zerstörerisch. Sie zerstören nicht nur den Seelenfrieden, sondern schlussendlich auch unsere Gesundheit.

Können Sie das näher erläutern?

Einige Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Seelenfrieden für die Gesundheit sehr, sehr wichtig ist. Demnach fressen Zorn, Hass und Angst unser Immunsystem auf. Deshalb ist ein ruhiger Geist so außerordentlich wichtig. Ich sage stets: Es gibt sieben Milliarden Menschen, und alle haben das gleiche Potenzial, alle sind mental, emotional und physisch gleich. Deshalb haben alle die Möglichkeit, ihre Intelligenz angemessen einzusetzen. Es geht immer um die Klarheit des Geistes. Wir sollten analysieren: Was ist gut für unsere Gesundheit, was ist schädlich? Dann gilt es, unser Wissen zu sortieren: Dies ist gesund, dies ist schädlich, also vermeiden wir es. Ähnliches gilt für unsere Emotionen, manche sind gut, auch für unsere Gesundheit und unseren Seelenfrieden. Andere Emotionen sind sehr destruktiv. Mit einem klaren Verstand sind die Unterschiede für jeden erkennbar. Dann entwickeln wir die Fähigkeit, destruktive Emotionen einzuschränken und konstruktive Emotionen zu fördern.

Was ist der Grundgedanke aller Religionen?

Die Liebe! Keine Frage. Menschen glauben an Gott, den Schöpfer, sie praktizieren Liebe. Viele christliche Brüder und Schwestern widmen ihr Leben der Hilfe anderer, besonders der Armen. All dies ist das Ergebnis der Lehre der Liebe.

Vor 100 Jahren brach der Ersten Weltkriegs aus, der 17 Millionen Opfer forderte, gefolgt vom Zweiten Weltkrieg mit 50 Millionen Toten. Glauben Sie, dass die Menschheit aus diesen Katastrophen gelernt hat, und dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert des Friedens sein wird?

Sicher. Ich glaube, dass die Menschen, besonders die Europäer, wissen, was Krieg bedeutet. Viele ältere Menschen erinnern sich noch sehr deutlich daran, wie zerstörerisch das war. Deshalb glaube ich, dass die meisten Menschen überall auf der Welt Gewalt ablehnen.

Woran machen Sie das fest?

Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen: den Irakkrieg. Dagegen gab es Demonstrationen von Australien bis nach Amerika. Jetzt scheint der Mensch etwas an Reife zu gewinnen. Das Bedürfnis nach Frieden beziehungsweise die Ablehnung von Gewalt ist sehr stark. Wir müssen weltweit Anstrengungen unternehmen, diese gewalttätigen Methoden zu stoppen, einzudämmen oder abzuschaffen. Jetzt reicht es nicht mehr aus, den Menschen zu sagen, dass wir Gewalt ablehnen und Frieden wollen. Wir müssen wirksamere Methoden anwenden. Wann immer wir auf Probleme stoßen oder wirtschaftliche Konflikte entstehen, oder auch im Fall von religiösen Differenzen, müssen wir darauf hinwirken, dass die einzig wahre Methode der Dialog ist. Wir müssen lernen, dass wir alle Brüder und Schwestern sind. Ich sage oft: das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Gewalt. Unser 21. Jahrhundert sollte das Jahrhundert des Dialogs sein.

Was ist das wichtigste Ziel für die junge Generation in der Zukunft?

Ich glaube, dass wir beide, lieber Freund, also die Generation des 20. Jahrhunderts, jede Menge Probleme geschaffen haben (lacht immer heftiger). Jetzt muss die Generation des 21. Jahrhunderts diese Probleme lösen. Auf friedliche Weise, im Dialog. Die junge Generation ist also sehr wichtig. Das 21. Jahrhundert ist erst 14 Jahre alt, die restlichen Jahre liegen noch vor uns. Es gibt also Möglichkeiten, die Welt zu verbessern, ein Umdenken zu bewirken. Manchmal, glaube ich, stehen wir vor dem selben Problem. Unser Gefühl befiehlt uns dann, das Problem mit Gewalt zu lösen. Das muss sich ändern. Immer, wenn wir auf dieses Problem stoßen, müssen wir, wenn der Tod droht, sofort überlegen, wie wir dies durch Dialog lösen können. Auf Familienebene, Gemeindeebene, nationaler Ebene sowie internationaler, globaler Ebene. Ich denke, dass wir dies hauptsächlich durch Bildung erreichen können. Gewalt ist eine Methode von gestern. Sie als Medienvertreter, aber auch Lehrer und Eltern spielen hier eine wichtige Rolle.

Sind Sie optimistisch, was die langfristige Beziehung zwischen China und Tibet angeht?

Ja. Wir haben 1000 Jahre lang als Nachbarn gelebt. Manchmal in der Vergangenheit war das Verhältnis sehr freundlich. Und manchmal wurde gekämpft (lacht). Ich sehe eine neue Entwicklung: Die buddhistische Bevölkerung in China zählt mehr als 400 Millionen Menschen. Viele dieser chinesischen Buddhisten zeigen ein wirklich ernsthaftes Interesse am Buddhismus, und viele folgen seinen Lehren. Wir haben bemerkt, dass in den vergangenen drei oder vier Jahren in China rund 1000 Artikel von Chinesen geschrieben wurden. Alle unterstützen unseren Ansatz. Sie stehen der Politik ihrer eigenen Regierung sehr kritisch gegenüber. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass viele Chinesen auf unserer Seite sind. Während der vergangenen Jahre traf ich Tausende Chinesen. Viele von ihnen zeigten sich ernsthaft besorgt über Tibet und mit uns solidarisch.

Beten Sie auch für die kommunistischen Führer in Peking?

Natürlich, das sind ja auch Menschen. Auch sie streben nach einem glücklichen Leben (lacht lange). Besonders die Menschen, die Ärger in sich tragen, die Tibet und mir gegenüber negativ eingestellt sind, für sie bete ich besonders.

Sehen Sie eine Chance für eine Rückkehr nach Tibet?

Aber ja, lieber Freund, die Dinge ändern sich.

Aber Sie sind schon 78 Jahre alt.

Ja, wenn ich dieses Jahr sterben sollte, dann sehe ich Tibet nicht mehr. Aber wenn ich noch 5, 10, 15 oder 20 Jahre lebe, dann ganz bestimmt.

Das Gespräch führte Franz Alt