Historikerin im Interview: So war Helmut Schmidt privat
Als Kanzler war Helmut Schmidt nie so beliebt wie Willy Brandt. Hunderttausende gingen gegen seinen Nato-Doppelbeschluss auf die Straße. Und 1982 wurde er praktisch vom Hof gejagt. Warum ist er später zur Ikone geworden?
In einer Zeit, in der vielen die Orientierung fehlt, hat der Intellektuelle Schmidt ihnen ein Gefühl von Kontinuität und analytischer Klarheit gegeben. Heute scheint die Politik richtungslos. Schmidt hingegen hat seine Vorstellungen durchgesetzt, auch wenn sie Risiken bargen. Dieser Mut, Verantwortung zu übernehmen, ist verloren gegangen. Und er konnte sich natürlich gut inszenieren. Irgendwann war er dann der Weise der Nation.
Man könnte es aber auch andersherum betrachten. Schmidt war unnahbar, konnte extrem brüsk und oberlehrerhaft sein.
Schmidt konnte in der Tat sehr launisch sein. Er hat unglaublich viel gearbeitet und gelesen, wollte alles kapieren. War ein Perfektionist. Wenn jemand aber nicht so schnell gedacht hat wie er, dann zeigte er wenig Mitgefühl.
Sie haben Schmidt mehrmals persönlich getroffen. Wie haben Sie ihn erlebt? Und fühlten Sie sich nach dem Gespräch auch wie ein geräucherter Bückling?
Oh ja. Als ich Schmidt das erste Mal in seinem „Zeit“-Büro getroffen habe, konnte ich ihn hinter der Rauchwand kaum sehen. Ich hatte noch nie so einen Kettenraucher erlebt. Während die eine Hand die Zigarette gerade im Aschenbecher ausdrückte, steckte die andere schon die nächste an. Da war überall dieser Mentholqualm. Das schafft Distanz. Zumal er sich zudem hinter seinem Schreibtisch verschanzt hat. Schmidt wollte auch nicht auf meine ersten Fragen antworten. Oder er sagte: „Reden Sie doch mal lauter.“ Das Oberlehrerhafte, das Norddeutsch-Kühle kann ich bestätigen. Nach 40 Minuten war er dann aber wie ausgewechselt, und wir haben uns noch gut eineinhalb Stunden über die Atmosphäre auf Gipfeln unterhalten.
Sie haben Schmidt dann drei Wochen vor seinem Tod noch mal erlebt. Wie war er da?
Da saß er zu Hause in seinem Sweatshirt und hat natürlich auch noch gequalmt und Kaffee getrunken. Wir sprachen dann darüber, wie es für ihn war, als Bundeskanzler mit Konzertpianisten zusammen auf die Bühne zu gehen und eine Platte aufzunehmen. Auch über Lampenfieber und Bühnenangst. Denn Schmidt war auch eitel. Beim Thema Musik hatte ich plötzlich das Gefühl, den Menschen hinter der Fassade zu sehen.
Wäre Schmidt der richtige Mann, um die SPD aus ihrem Langzeittief zu holen, oder mit seiner basisfernen Direktheit doch eher der letzte Sargnagel der Partei?
Sicher würde er der SPD guttun – und Deutschland auch. Schmidt ist sicher keiner fürs Bierzelt im Rheinland, war immer etwas basisfremd. Das hat er Brandt überlassen. Aber er dachte tiefgründig und formulierte scharf. Erinnern Sie sich an Strauß gegen Schmidt: zwei Streithähne. Aber Politik ist eine Art Kampfsport. Und je schärfer der Gegner redet, desto besser muss man selbst argumentieren. Genau das fehlt uns heute in der Diskussionskultur in Deutschland. Das Niveau der Debatten war früher weitaus höher – übrigens auch sprachlich.
In Ihrem Buch haben Sie Schmidt sogar zum „Weltkanzler“ geadelt. Erstaunlich für den Regierungschef eines Landes, das damals nicht mal voll souverän war.
Schmidt hat zweifelsohne Weltpolitik gemacht. Das zeigt sich etwa 1979 beim nuklearstrategischen Gipfel auf Guadeloupe. Da saß er mit drei Westalliierten am Tisch, ohne selbst Atomwaffen zu besitzen – und nicht wie zuvor am Katzentisch. Das war ein absoluter Coup, der nur zustande kam, weil Schmidts Freund Valéry Giscard d'Estaing bereit war, die Gespräche auszurichten. Schmidt erklärte US-Präsident Jimmy Carter dank seiner großen Expertise in 45 Minuten sein Konzept über das Gleichgewicht der Kräfte. Carter fand das arrogant, Giscard war beeindruckt. Mit Eins-plus-Drei in Guadeloupe schafft Schmidt übrigens die Voraussetzung für die Zwei-plus-Vier-Gespräche zur Deutschen Einheit – und eben nicht Vier-plus-Null.
Guadeloupe ist die Geburtsstunde des Nato-Doppelbeschlusses. Also atomare Nachrüstung der Nato bei einem gleichzeitigen Abrüstungsangebot an die Sowjetunion. Welche Rolle hat Schmidt da gespielt?
Der Doppelbeschluss und das in ihm enthaltene US-Verhandlungsangebot zur sowjetischen Abrüstung ging auf Schmidt zurück. Aber nur die Supermächte konnten verhandeln. Der Kanzler musste also zu Abrüstungsgesprächen drängen. Und das in einer Zeit, als die Sowjets in Afghanistan einmarschierten. In dieser Situation hat sich Schmidt selbst zum Doppeldolmetscher erkoren. Reiste nach Moskau, reiste nach Washington. Dass er beide Seiten wieder ins Gespräch bringt, das ist ein Verdienst der Politik Schmidt. Aber das hat die Bevölkerung damals so nicht wahrgenommen.
Schmidt hat einen hohen Preis gezahlt. Hat sich das Opfer im Nachhinein gelohnt und zum Ende des Kalten Krieges beigetragen?
Das Risiko hat er voll einkalkuliert und in Kauf genommen. 1983, als die Abrüstung scheiterte, ist der Nato-Doppelbeschluss unter Helmut Kohl umgesetzt worden. Nachdem seine Vorgänger nacheinander weggestorben sind, hat der sowjetische Staatschef Michael Gorbatschow 1985 erkannt, dass der Welt und der UdSSR eine neue, teure Rüstungsspirale droht. Es kam zu Abrüstungsverhandlungen mit US-Präsident Ronald Reagan – und 1987 zum INF-Vertrag. Mit dieser Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen hat Schmidt also genau das erreicht, was er ursprünglich haben wollte.
In seiner Kanzlerschaft war Schmidt an allen Fronten als Krisenmanager gefragt. Eine Folge war das Europäische Währungssystem von 1979, das maßgeblich auf Schmidt zurückgeht. Würden Sie ihn als Vater des Euro bezeichnen?
In der Tat war die wirtschaftliche Lage damals katastrophal. Schmidts Antwort lautete: mehr Kooperation. Dabei kam ihm die tolle Freundschaft mit dem französischen Präsidenten zugute. Letztlich ging das Europäische Währungssystem auf die Schmidt-Giscard-Kombo zurück. Das ist praktisch auch die Geburtsstunde der späteren Wirtschafts- und Währungsunion, aus der dann der Euro hervorgeht. Also noch ein Vermächtnis Schmidts, auch wenn er mit der Idee an sich nicht der Erste war.
Brexit, Italien-Krise, Griechenland. Die Liste der Baustellen in der EU ist lang. Welche Medizin würde Schmidt Europa verschreiben?
Ein Schmidt würde jetzt sagen: In zehn Jahren müssen wir da oder da sein. Das würde er der Bevölkerung auch klar kommunizieren. Und zwar in Grundsatzreden, die uns sagen, wohin es geht. Genau die fehlen uns ja heute in der Debatte. Ich weiß nicht, wie ein Schmidt-Macron-Tandem funktionieren würde. Aber Schmidt war immer gut darin, alles zusammenzuhalten und schließlich die Richtung vorzugeben.
So ganz nebenbei haben wir Schmidt auch noch die G20 zu verdanken. Die Gipfel verbinden wir heute meist mit Krawallen und viel Gerede, ohne dass am Ende viel herauskommt. Was ist die historische Leistung des Altkanzlers?
Schmidts Idee war ein Forum, auf dem sich die Politiker direkt austauschen und die Probleme offen ansprechen können. Dazu brauchte er keine 1000 Journalisten. Aber wenn wir diese G7/G20-Plattform nicht hätten: Wo sonst würden wir Trump denn regelmäßig treffen? Am Rande der großen Gipfel auf dem Flur gibt es immer informelle Zwiegespräche. Gerade in Krisenzeiten ist das wichtig.
Schmidt war Transatlantiker. Wie würde der Stratege mit dem sprunghaften US-Präsidenten Trump umgehen?
Schmidt wollte Frieden und Stabilität. Dafür braucht es Berechenbarkeit. Trump hingegen hat mal gesagt, dass Unsicherheit das Herz seiner Politik ist. Ich glaube deshalb, dass eigentlich keiner mit Trump richtig umgehen kann. Das ist einer, der immer vollkommen impulsiv handelt. Deshalb denke ich, dass es Schmidt gar nicht so viel anders machen würde als Angela Merkel. Sie wird global sehr respektiert – wie damals Schmidt.
Die Deutschen verbinden Schmidt vor allem mit dem Deutschen Herbst. Ist der Sieg über die RAF sein bedeutendstes Vermächtnis?
Ob es das größte Vermächtnis ist, kann ich nicht sagen. Aber sicher ein wichtiges. Denn das ist ihm persönlich sehr nahegegangen. Für Schmidt war immer klar: Der Staat ist nicht erpressbar. Damit hat er Maßstäbe geschaffen.
Das Gespräch führte Dirk Eberz