Berlin

Hartz-Reform: Ist 5 plus 3 Euro verfassungsfest?

Mehrfach stand es wieder Spitz auf Knopf, erneut drohte der Abbruch der Hartz-IV-Gespräche. Doch im Schatten der Hamburg-Wahl fanden Koalition und SPD in einem zehnstündigen Verhandlungsmarathon doch noch einen Kompromiss über die vom Verfassungsgericht verlangte Neuregelung.

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Berlin. Mehrfach stand es wieder Spitz auf Knopf, erneut drohte der Abbruch der Hartz-IV-Gespräche.

Doch im Schatten der Hamburg-Wahl fanden Koalition und SPD in einem zehnstündigen Verhandlungsmarathon doch noch einen Kompromiss über die vom Verfassungsgericht verlangte Neuregelung. Nach dem Willen der Richter hätte eigentlich alles schon zum 1. Januar 2011 unter Dach und Fach sein sollen.

„Ende gut – alles gut“, verkündete der rheinland-pfälzische Regierungschef Kurt Beck (SPD) stolz zum Abschluss der Gespräche in tiefer Nacht. Doch auch jetzt bleiben viele Fragen offen. Nicht nur die Grünen haben weiter Zweifel, dass der künftige Regelsatz von 364 Euro monatlich verfassungskonform berechnet ist – so wie die Richter es verlangen und die Bundesregierung es behauptet. Auch Beck, SPD-Chef Sigmar Gabriel und andere führende Sozialdemokraten äußerten sich trotz ihrer Zustimmung zum Kompromiss weiter skeptisch.

Grüne steigen frühzeitig aus

Die Grünen blieben konsequent. Am Ende wollten ihre Vertreter das nächtliche Geschacher um 3 Euro Hartz-IV-Regelsatz mehr oder weniger nicht mehr mitmachen und kündigten vier Stunden vor Verhandlungsende frustriert die Mitarbeit auf. Aus der SPD hieß es, bei allem Zweifel könne niemand Erfolg oder Misserfolg einer erneuten Klage gegen die von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) angewandte Berechnungsmethode des Existenzminimums garantieren.

Die SPD will jedenfalls nicht klagen, die Gewerkschaften halten sich noch zurück. Eine Klage von Betroffenenverbänden gilt dagegen als sicher. Von der Leyen gibt sich dagegen zuversichtlich: „Ich bin überzeugter denn je, dass der Regelsatz verfassungsfest ist.“ Widerspruch kommt von Max Eppelein, Justiziar beim DGB-Rechtsschutz: „So wie es jetzt aussieht, werden die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts zur Berechnung der Hartz-IV-Regelleistung nicht erfüllt.“ Und der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge ergänzte: „Schaut man genau hin, trägt der Kompromiss dem Karlsruher Urteilsspruch nicht einmal ansatzweise Rechnung“, sagte Butterwegge. CDU/CSU, FDP und SPD hätten die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 nicht umgesetzt, sondern „mit Füßen getreten“. Er sprach von einer „Bankrotterklärung des Sozialstaates“.

„Gravierend ist, dass die Bundesregierung gar nicht ermittelt hat, was Kinder aus Hartz-IV-Familien genau benötigen und verbrauchen“, sagte Stefan Sell, Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Koblenz. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass der Bedarf von Kindern genau festgestellt werden muss. Kritisch sieht der Koblenzer Wissenschaftler auch die Einigung, jeweils 400 Millionen Euro für die nächsten drei Jahre zusätzlich für Schulsozialarbeiter und Schul-Mittagessen auszugeben: „Was haben zusätzliche Sozialarbeiter mit Hartz IV zu tun?“

Rot-Grün treibt den Preis hoch

SPD und Grüne hatten den Preis für die von den Verfassungsrichtern verlangten Bildungshilfen für bedürftige Kinder gewaltig hochgetrieben und deutliche Verbesserungen durchgesetzt. Von der ursprünglich von der Arbeitsministerin geplanten bundesweiten Bildungschipkarte blieb nicht mehr viel übrig. Vehement hatte sie sich erst gegen die nunmehr vereinbarte kommunale Lösung gewehrt.

Aus Sicht vieler Experten ist das Bildungspaket der wichtigste Teil der schwierigen Hartz-IV-Neuregelung. In kaum einem anderen Industriestaat der Welt ist der Bildungserfolg eines Kindes so abhängig von seiner sozialen Herkunft wie in Deutschland. Die Armut der Eltern, häufig Langzeitarbeitslose mit schlechter Bildung, soll sich nicht weiter auf die Kinder „vererben“. Die Mahnung der Verfassungsrichter war dazu unmissverständlich: Ohne ausreichende Teilhabe an Bildung bestehe für diese Kinder die Gefahr, dass sie in ihren „Möglichkeiten eingeschränkt werden, später ihren Lebensunterhalt aus eigenen Kräften bestreiten zu können“.

Experte Sell sieht aber auch bei der Berechnung des Bedarfs Erwachsener Mängel. Dafür müsse zuvor der Bedarf der ärmsten 15 Prozent der Bevölkerung festgestellt werden. Empfänger von Sozialgeldleistungen dürfen hier aber nicht mitgezählt werden. Dies sei aber nicht geschehen. Sein Fazit lautet: „Das alles scheint ein großes Scheunentor für weitere Klagen zu sein, die beim Bundesverfassungsgericht landen werden.“