Grüne: Mut zum Unbequemen

Cem Özdemir (Mitte), Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, zu Gast bei der Rhein-Zeitung: Im Live-Stream diskutierte er mit RZ-Chefredakteur Christian Lindner (2. von links), Redakteurin Birgit Pielen (rechts) und den beiden Schülerreportern Senta Feigk und Thomas Kunz von der BBS Bad Neuenahr-Ahrweiler über aktuelle Themen.
Cem Özdemir (Mitte), Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, zu Gast bei der Rhein-Zeitung: Im Live-Stream diskutierte er mit RZ-Chefredakteur Christian Lindner (2. von links), Redakteurin Birgit Pielen (rechts) und den beiden Schülerreportern Senta Feigk und Thomas Kunz von der BBS Bad Neuenahr-Ahrweiler über aktuelle Themen. Foto: Sascha Ditscher

Obwohl die SPD der Wunschpartner in einer Koalition wäre: Cem Özdemir (47), Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, schließt andere Konstellationen nach dem 22. September nicht kategorisch aus.

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Das Gespräch führten die beiden Schülerreporter Senta Feigk und Thomas Kunz, Chefredakteur Christian Lindner und Redakteurin Birgit Pielen

Das sagte er im Interview mit der Rhein-Zeitung, das per Livestream gesendet wurde. Hier Auszüge aus dem einstündigen Gespräch, an dem auch zwei Schülerreporter teilnahmen.

Politiker versprechen, Probleme zu lösen. Nach einer Wahl erinnern sie sich nicht mehr an ihr Versprechen. Wenden sich junge Leute deshalb von der Politik ab?

Ich spreche ungern von „den Politikern“. Es gibt unterschiedliche Politiker mit unterschiedlichen Richtungen – genauso wie man möglichst nicht von „den Christen“ oder „den Muslimen“ sprechen sollte. Was es in der Politik kompliziert macht: Man hat unterschiedliche Ebenen, die Kommunen, die Bundesländer, den Bund und Europa – alle haben ihre Zuständigkeiten.

Und wenn es Mehrfach- Zuständigkeiten gibt, wird's kompliziert. Im Gegensatz zu Schwarz-Gelb und Frau Merkel, die anscheinend für alles und nichts steht, sagen wir Grüne vor der Wahl klar, was wir wollen. Das hat was mit Glaubwürdigkeit zu tun.

Wie schaffen es Spitzenpolitiker, nah beim Volk zu bleiben?

Da gibt es kein Patentrezept. Bei mir ist es so, dass mich meine Familie erdet. Da werde ich mit ganz normalen Problemen konfrontiert. Welche Schule ist für die Kinder sinnvoll? Wer kann zum Elternabend gehen? In meiner Freizeit bin ich mit Menschen zusammen, die nicht in der Politik sind.

Was kann man tun, um Jugendliche mehr als bisher für Politik zu interessieren?

Unser Vorschlag ist, das Wahlalter bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre zu senken. Junge Leute sollen stärker in die Politik einbezogen werden. Außerdem wollen wir mehr direkte Demokratie. Durch Volksbegehren und Volksentscheide kann eine Form der echten Beteiligungsdemokratie entstehen.

Sind die Grünen noch eine Protestpartei? Optisch zumindest gibt es kaum noch Unterschiede zu anderen Parteien. Sie tragen doch jetzt auch einen Anzug.

Wir wollen nicht, dass die Menschen über unser Äußeres diskutieren, sondern über unsere Botschaften. Und da haben wir das Jahrhundertthema schlechthin: die Nachhaltigkeit – und die Frage, in welchem Zustand wir unseren Planeten künftigen Generationen überlassen.

Viele junge Leute interessieren sich für Tierschutz. Massentierhaltung gibt es immer noch – obwohl die Grünen etliche Jahre zusammen mit der SPD an der Regierung waren.

Wir kämpfen dafür, dass wir die bäuerliche Landwirtschaft erhalten. Wir haben mittlerweile eine Pervertierung von Landwirtschaft, die auch zu einer artfremden Tierhaltung führt. Da werden Schweinen die Schwänze abgeschnitten und Kühen die Hörner gestutzt, weil die Ställe zu eng sind. Tieren werden Antibiotika verabreicht. Die Futtermittel kommen aus Südamerika – dort werden dafür die Regenwälder abgeholzt, gentechnisch verändertes Soja wird angebaut. Das ist eine Perversion von Landwirtschaft, die mit dem Ursprung nichts mehr zu tun hat. Man kann etwas tun gegen Massentierhaltung, indem man auf Bundesebene dafür sorgt, dass die Gesetze geändert werden. Das wollen wir.

Was verhindert Ilse Aigner, die aktuelle Landwirtschaftsministerin?

Sie ist gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel, aber in Brüssel verhindert sie das nicht. Die EU-Agrarreform im Sinne des Naturschutzes wurde sabotiert – dazu hat Deutschland beigetragen. Die Maismonokulturen, die wir für die sogenannte Biomasse haben, haben weder etwas mit Energiewende noch mit Naturschutz zu tun. Die Einzigen, die sich darüber freuen, sind die Wildschweine.

Haben dabei die Verbraucher nicht den Schlüssel genauso in der Hand wie die Politik?

Beides ist richtig. Die Politik muss den Rahmen festlegen. Ein Beispiel ist der Veggie-Day, der wohlgemerkt eine Empfehlung ist, keine Vorschrift. Wenn alle so viel Fleisch konsumieren wie die Amerikaner und wir, reicht ein Planet nicht. Dann brauchen wir sechs oder sieben Planeten. Wir haben weder so viel Wasser noch so viel Anbaufläche für Futtermittel. Da haben wir Grüne den Mut, unbequeme Dinge zu sagen. Verbraucher sollten in ihrem Einkaufsverhalten darauf achten. Sonst darf man sich nicht wundern, dass man Pferdefleisch in der Billig-Lasagne hat.

Sie selbst sind seit vielen Jahren Vegetarier.

Das bin ich, aber ich mache daraus keine missionarische Geschichte.

Bildung ist Ländersache, trotzdem ist sie Wahlkampfthema im Bund. Was würde mit den Grünen besser werden?

Wir wollen nicht alles ändern, auch bei uns wird es Zeugnisnoten geben. Wir wollen dem Ideal der Aufklärung Geltung verschaffen: dass nämlich jedes Kind, unabhängig von der Herkunft, alle Chancen verdient hat, seine Talente auszuschöpfen. Wenn man aus einer Arbeiterfamilie kommt, hat man es im Vergleich zu einem Kind aus einer Akademikerfamilie fünfmal so schwer, aufs Gymnasium zu kommen, wohlgemerkt bei gleicher Intelligenz und Leseleistung.

Das ist nicht in Ordnung. Statt des Betreuungsgeldes wollen wir in den Ausbau der Kitaplätze investieren. Wir wollen mehr Lohn für Erzieher, und wir wollen Ganztagsschulen, die den Namen verdienen.

Junge Menschen und Geringverdiener leiden unter den stark steigenden Strompreisen. Wie kann man die Kosten der Energiewende im Rahmen halten?

Das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ist der rechtliche Rahmen für den Energieumbau. Grundsätzlich halten wir die EEG-Umlage für das richtige Mittel. Aber sie wird nicht fair von allen Stromkunden getragen. Zu viele Firmen müssen die EEG-Umlage nicht mehr zahlen. Schwarz-Gelb hat da klassische Lobbypolitik betrieben und die Ausnahmen ausgedehnt auf Golfplätze und Schlachthöfe. Die Zeche zahlen private Haushalte und der Mittelstand.

Ist es realistisch, bis 2030 zu 100 Prozent erneuerbare Energien in Deutschland zu haben?

Bis jetzt war es doch so, dass sich alle Prognosen als falsch herausgestellt haben. Selbst wir haben uns verrechnet. Wir haben jetzt 25 Prozent Strom aus erneuerbaren Energien in Deutschland. Und da geht noch viel mehr.

Stichwort Syrien: Dort sind Krieg und Terror an der Tagesordnung. Können Sie sich vorstellen, dass die Grünen eine militärische Intervention in Betracht ziehen?

Das kann immer nur die Ultima Ratio sein. Manchmal muss man in der Politik zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren Lösung entscheiden. Das war in Bosnien und Afghanistan so. Nach allem, was wir bislang wissen, ist das syrische Regime verantwortlich für den Giftgaseinsatz gegen das eigene Volk. Die UN müssen das jetzt schnellstens untersuchen können. A

m liebsten wäre mir dann eine Antwort des UN-Sicherheitsrates, die alle Nachbarstaaten mittragen. Das würde einen Stellvertreterkrieg in Syrien verhindern – die Russen auf der einen Seite, der Westen auf der anderen Seite.

Wenn es am 22. September rechnerisch eine Mehrheit für eine Koalition aus Union und Grünen gäbe, kämen Sie ins Grübeln?

Ich grübele jeden Tag (lacht). Das gehört zur Politik. Ich gehe an solche Fragen nicht ideologisch ran. Inhalte sind entscheidend. Meine Fantasie reicht nicht aus, dass ich 2013 eine solche Koalition sehe.

Aber man sollte nie „nie“ sagen.

Das sollte man in der Politik nicht. Demokratische Parteien sollten untereinander gesprächs- und gegebenenfalls koalitionsfähig sein.