Frankfurter Buchmesse gestartet: Zwei Sprachräume, ein Herz

Bitte Platz nehmen vor dem Strand-Rundhorizont im Gastlandpavillon: „Poesie-Flüsterinnen“ lesen den Gästen Gedichte vor.
Bitte Platz nehmen vor dem Strand-Rundhorizont im Gastlandpavillon: „Poesie-Flüsterinnen“ lesen den Gästen Gedichte vor. Foto: dpa

Mit einem Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und der Warnung vor Nationalismus und Intoleranz in Europa hat am Dienstag die 68. Frankfurter Buchmesse begonnen. RZ-Kulturchef Claus Ambrosius war vor Ort.

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Rechtzeitig zur Eröffnung der Buchmesse – und eigentlich ohne jeden Bezug zu ihr – ist ein neuer Mietpreisindex erschienen. Die Buchmessenstadt Frankfurt hält darin einen, je nachdem, ob man Mieter oder Vermieter ist, mehr oder weniger rühmlichen Spitzenplatz: Nirgends in Deutschland ist der Mietpreis im vergangenen Jahr dermaßen gestiegen, saftige 19 Prozent mehr war für Neuvermietungen zu berappen. Und zu dieser Entwicklung ist der Gastlandauftritt der Niederlande und Flanderns doch, bewusst oder unbewusst, ein Statement: Nicht eng und gedrängt, jeden Zentimeter nutzend, sondern sehr großzügig ist er ausgefallen, er atmet Platz, Raum – und Meeresrauschen!

Foto: Leigh Prather -

„Poesie-Flüsterinnen“ im Messe-Dauereinsatz

Ein riesiger Rundhorizont aus Stoffvorhängen ist mit Seeidylle bemalt, der pittoreske Ziegelboden scheint im Meer zu enden: Hier gönnt ein Gastland seinen (Buchmesse-)Besuchern eine Insel der Ruhe im gewohnten Trubel des weltgrößten Branchentreffs rund ums Buch. 300 000 Besucher werden bis Sonntagnachmittag erwartet – keiner von ihnen sollte sich den Gastlandpavillon entgehen lassen. Wer komplett dem Messetrubel entfliehen will, muss sich nur auf eine Strandliege flüchten: Auf den danebenstehenden Stühlen nimmt eine von mehrere „Poesie-Flüsterinnen“ Platz. Sie haben etwas mitgebracht: Nein, keinen Käse aus Holland, für Verköstigung von Fritjes bis Kirschbier sorgen schon die zahlreichen Stände auf der Agora zwischen den Messehallen. Die Poesievermittlerinnen haben einen Ordner dabei mit Gedichten, die in verschiedenen Projekten im Vorfeld dieser Buchmesse in den Niederlanden und im niederländischsprachigen Teil Belgiens entstanden. Es geht um Strand, Sand, Meer und mehr – man wählt Thema, Autor, Deutsch oder Englisch, und los geht es in Flüsternähe mit der intimsten Lesung, die die Buchmesse zu bieten hat. Ein Traum.

Dabei darf man sich den Gastlandpavillon keineswegs als aus der Zeit gefallen vorstellen: Hinter den Stoffbahnen warten die mehr als 400 frisch ins Deutsche übersetzten Titel, die die Niederlande und Flandern auf der Buchmesse vorstellen. Und im Gegensatz zu vielen Gastland-Jahren, in denen eine mitunter exotisch anmutende Buchkultur angestaunt wird wie im Museum, werden in diesem Jahr die Zuschauer flott übergriffig: Hoffentlich haben die Gäste genügend Wachpersonal dabei, damit nicht alle mitgebrachten Bücher noch vor Messeschluss Beine bekommen und in Besuchertüten die heiligen Hallen des internationalen Buchmarktes verlassen.

„Dies ist, was wir teilen“ lautet das tiefgründige Motto des Gastlandes, das ja einen gemeinsamen Sprachraum und nicht ein einzelnen Land abbildet. Wer sich im Pavillon umblickt, sieht ja sofort vieles Verbindendes. Die Liebe zum Wasser und zur See sicherlich, aber auch ausgesprochen viele Autoren. Denn – und das ist der Unterschied zum Gastlandjahr 1993 der Niederlande: Viele Autoren des Gastlandes gehören zu den Lieblingsschriftstellern der Deutschen. Und dass das so ist: Darauf kann sich die Buchmesse in ihrer Eigenschaft als Kulturforum etwas einbilden. Sicher, auch vor 1993 wurden einige wenige Bücher ins Deutsche übersetzt – doch der große Run setzte mit dem Buchmessenjahr ein.

Das lange Nebeneinanderherleben mag an Hauptthemen liegen, die die niederländische Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigten. Mit dem größten ist wieder ein Punkt angesprochen, auf den „Dies ist, was wir teilen“ zutrifft: Viele niederländische Autoren arbeiteten sich ihrer Sicht auf die Zeit des Nationalsozialismus ab, andere mit der Vergangenheit ihrer Nation als Kolonialmacht. Beides galt in Deutschland nicht gerade als sexy Lesestoff, viele große Autoren des Nachbarlandes blieben unbeachtet.

Dass sich das so grundlegend geändert hat, liegt strukturell gesehen an einem weiteren Faktor, der den deutschen und den niederländischen Literaturbetrieb und -markt verbindet: Der Staat bringt sich aktiv in die Leseförderung ein. Das geschieht etwa mit beachtlich ausgestatteten Fördertöpfen für Übersetzer: Bis zu 80 Prozent der Kosten für eine Übersetzung aus dem Niederländischen können aus solchen Quellen bestritten werde, ein knallhartes Argument für deutsche Verleger, niederländische Autoren ins Programm nehmen zu können. Manche staatliche Förderung funktioniert aber auch einfach per Maßregelung: Ebenso wie in Deutschland wird in den Niederlanden an einer Buchpreisbindung festgehalten. Und wer sich die ausliegende Verlagsprospekte ansieht und die kleinformatigeren Neuerscheinungen in niederländischer Sprache, erkennt sofort: Die sehr landesspezifische Vorliebe für Poesie, eine Ehrensache für jeden niederländischen Verlag, ist sicherlich über hohe Auflagen für diese Orchideen der Literatur zu finanzieren.

Krieg und Indonesien: Von diesen viel beschworenen Hauptthemen hat sich die niederländische Literatur schon lange gelöst. Ein Überblick über die jüngste Literatur zeigt eine starke Fokusbildung auf aktuelle Themen unserer Zeit, von der Globalisierung bis zur Flüchtlingsthematik, und das auf breiter Basis und in vielerlei Darreichungsformen. Und damit zeigt sich das Gastland voll im Trend der Buchmesse, die in diesem Jahr noch einmal viel internationaler wirkt, als sie ohnehin schon tut.

Die Veranstalter haben sich Meinungsfreiheit als großes Thema gesetzt, auf den vielen Podien der Messe wird eifrig diskutiert. Wer selbst mitreden will, kann das an allen möglichen Ständen tun: Wo sonst schon liegen zwischen deutschen Bibelgesellschaften und islamischen Kulturverbänden nur wenige Meter Luftlinie? Der Gang durch die Ausstellungsflächen zu Religion und Weltanschauung ist so wieder der bunteste von allen: Da fachsimpelt die Ordensfrau mit dem Verleger und zieht nur ganz kurz die Augenbrauen hoch, wenn am Nachbarstand die Schamanentrommel mal wieder ganz schön laut geschlagen wird.

Die großen Themen, die vordergründig in den Medien Jahr für Jahr aufgegriffen werden, aber auf dem Markt keine große Rolle spielen: Sie kann man auch in diesem Jahr rasch abhaken. Ja, das E-Book ist ein Thema – doch die Deutschen bevorzugen nach wie vor das Buch, dass sie in die Hand nehmen, am Strand oder im Bett gleichermaßen liegen lassen und schließlich nach Gebrauch ins Regal stellen oder weiterverschenken können. Und, ja, auf der Antiquariatsmesse geht es wieder ausgesprochen ruhig zu – nun stehen ihre Schätzchen aber auch am Endpunkt eines Produktzyklus, der auf der Buchmesse von der Anbahnung bis zur vertraglichen Fixierung erst seinen Anfang findet.

Grenzbereiche zwischen Buch und bildender Kunst im Blick

Spannender ist da ein neues Geschäftsfeld, das die Buchmessenmacher aufgetan: Der Messennovize 2016, die Abteilung „The Arts+“, also „Die Künste+“, stößt auf gewaltiges Interesse. Museen von den weltgrößten bis zu Frankfurter Lokalmatadoren sind dabei, junge Kollektive und Firmen, vom Kunstbuch bis zum 3-D-Druck werden hier mit breitem Themenspektrum und mit großer Kreativität die Grenzbereiche zwischen Buch und bildender und darstellender Kunst angesprochen – ausgereizt sind sie noch lange nicht, hier ist für Entwicklungen in den kommenden Jahren noch viel Luft nach oben, aber ein hervorragender Anfang ist gemacht.

„Dies ist, was uns verbindet“: Das Gastlandmotto könnte über jeder Buchmesse stehen. Am Mittag des ersten Fachbesuchertages sitzt der Schriftsteller Wolfang Genazino auf dem Sofa der ARD, berichtet, dass er seit 40 Jahren zur Buchmesse pilgert. Warum? Das besondere Kitzeln, die vielen Schriftsteller zum Anfassen, die immer neuen Bücher – dem ist nichts hinzuzufügen.

  • Publikumstage sind Samstag und Sonntag.