Experte: Firmen müssen sich stärker vernetzen

Henning Kagermann (67) ist ehemaliger CEO des deutschen Software-Riesen SAP und berät heute die Kanzlerin bei der Digitalisierung. Im Interview erklärt er, warum Industrie 4.0 alle angeht.

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Herr Kagermann, nach Dampfmaschine, Elektrifizierung und erster Computertechnik läuten jetzt miteinander kommunizierende Maschinen die vierte industrielle Revolution ein. Richtig?

Eine Revolution mit Ansage, richtig. Aber sie verläuft wie eine Evolution. Die Technologien sind ja nicht neu.

Wie das?

Die von Ihnen beschriebenen ersten drei Entwicklungsstufen waren echte technische Umstürze. Aber heute beobachten wir vor allem die Weiterentwicklung der Computer, nicht deren Neuerfindung. Es ist die zunehmende Vernetzung von Menschen und Objekten, deren Auswirkungen durchaus revolutionär sein werden.

Dürfen sich die Menschen darauf freuen, oder müssen sie nun um ihre Arbeitsplätze bangen, wenn Maschinen nur mit Maschinen arbeiten?

Die Vorteile überwiegen, sowohl für Verbraucher als auch für Betriebe. Denn die Produkte werden sicherer, günstiger, besser in der Qualität und schneller herstellbar mit weniger Ressourcen.

Die Sorge um Arbeitsplätze ist unbegründet?

Zur Wahrheit gehört natürlich, dass es eine Verschiebung beim Arbeitsbedarf geben wird: Die klassische Fließbandarbeit wird immer häufiger intelligenten Maschinen weichen. Dafür werden künftig mehr Menschen in den Forschungs- und Designabteilungen und für die Überwachung der Maschinen gebraucht. Für uns bedeutet das, dass wir beispielsweise die Arbeiter am Band mitnehmen müssen und uns schon heute über Weiterbildungen Gedanken machen sollten. Die Gewerkschaften bringen sich hier bereits aktiv ein.

Braucht es für Industrie 4.0 neue Berufsbilder, oder können bestehende Ausbildungen angepasst werden?

Vermutlich wird es reichen, dass Berufsausbildungen ergänzt werden. Das war bei der Entwicklung der Elektromobilität ähnlich. Allerdings wird es eine Kompetenzoffensive geben, die das Bundesforschungsministerium mitangestoßen hat. Gemeinsam mit Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitgebern wollen wir in einer Studie den Handlungsbedarf bestimmen, wie die Ausbildungen angepasst werden können.

Führt eine noch digitalere Industrie die Beschäftigten nicht in eine noch größere Abhängigkeit von Smartphones, Laptops und Co.?

Hier sollte man nicht schwarzmalen. Die Belastungen würden steigen, wenn die Unternehmen ihre Arbeitnehmer mit Technik überfordern oder sie damit überfrachten. Verdammen wir diese Entwicklung aber, verbauen wir uns riesige Chancen, etwa für flexiblere Arbeitszeitmodelle. Ich glaube zum Beispiel fest daran, dass sich künftig der Schichtkalender immer mehr dem Arbeiter anpassen kann und nicht umgekehrt. Industrie 4.0 führt zu Arbeit 4.0.

Machen Sie sich Sorgen, Deutschland könnte den Anschluss an diese industrielle Evolution verpassen?

Es gibt Stimmen aus der Industrie, dass die Transformation zur Industrie 4.0 schwierig werden kann. Tatsächlich haben wir aber in Deutschland sehr gute Startvoraussetzungen, diese Revolution zu gestalten und künftig weltweit führend beim Internet der Dinge oder der Vernetzung von Maschinen zu sein. Die deutsche Wirtschaft muss das verstehen und ihre einmalige Chance auch nutzen. Im Moment geht das noch zu langsam.

Wer könnte uns den Titel denn noch streitig machen?

Länder wie Südkorea, Japan und China, die in der Produktion stark sind. Oder die Amerikaner, die in der Vernetzung von Maschinen und der IT weltführend sind. Der Vorteil der deutschen Industrie, speziell der Maschinenbauer, ist ihre hohe Kompetenz bei der Integration von Software in die Produktionsanlagen. Aber die Unternehmen müssen darauf achten, dass sie sich noch stärker global vernetzen, um später die neuen Maschinen auch passend verkaufen zu können.

Was muss jetzt die Bundesregierung tun, um die Wirtschaft zu stützen?

Die Politik hat das Potenzial der Industrie 4.0 erkannt und Förderprogramme für Forschung und Entwicklung aufgelegt. Im Moment kann sie die Wirtschaft eigentlich nur fragen, welche Rahmenbedingungen sie für eine gelungene Transformation zur Industrie 4.0 braucht. Es gibt zwar Konsens bei Themen wie einer europäischen Datenschutzrichtlinie und dem Breitbandausbau. Aber die Wirtschaft ist jetzt gefordert, ihren Bedarf zu präzisieren und an die Politik weiterzugeben.

Ist denn die Regierung mit dem Breitbandausbau auf dem richtigen Weg?

Richtig ist, dass die Bundesregierung den Ausbau schneller Datenleitungen vorantreibt. Die sind aber nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung, wenn wir die Chancen der digitalen Vernetzung für innovative Geschäftsmodelle nutzen wollen. Dafür brauchen wir neue digitale Infrastrukturen. Das sind vor allem Plattformen, auf denen zum einen Daten intelligenter Produkte und Dienstleistungen ausgewertet und zusammengeführt werden. Zum anderen aber auch Plattformen, auf denen internetbasierte Dienstleistungen angeboten werden. Ihr Smartphone nützt Ihnen ja auch wenig, wenn Sie nur eine schnelle Mobilfunkverbindung haben, aber nicht auf eine Plattform zugreifen können, auf der Sie Ihre Apps kaufen. Jede Milliarde, die man heute in den Aufbau dieser Infrastrukturen investiert, wird sich rechnen.

Wo sehen Sie die Politik noch in der Pflicht?

Wenn wir die Menschen befähigen wollen, die digitale Transformation in ihrem Sinn zu gestalten. Dafür ist die Mint-Bildung in der Breite, also die Bildung in den Bereichen Mathematik, Informatik, in den Natur- und Technikwissenschaften, einer der Erfolgsfaktoren. Denn technikmündige Bürger und gut qualifizierte Fachkräfte treiben die digitale Revolution voran und profitieren von ihr. Dazu gehören auch die Ausstattung der Schulen und die Ausbildung der Lehrer mit digitaler Technik. Wir müssen unseren Nachwuchs heute sehr gezielt an den Geräten ausbilden.

Das Gespräch führte Jan Drebes