Entwicklung in der Türkei: Noch mehr 
Sultan

Der "Sultan" lässt sich feiern: Recep Tayyip Erdogan kündigte vor seinen Anhängern nun ein gnadenloses Vorgehen gegen die Putschisten an.  Fotos: afp/dpa (3)
Der "Sultan" lässt sich feiern: Recep Tayyip Erdogan kündigte vor seinen Anhängern nun ein gnadenloses Vorgehen gegen die Putschisten an. Fotos: afp/dpa (3) Foto: AFP

Flüchtlingskrise, Krieg in Syrien, Völkermordstreit: Die Türkei war für Deutschland bislang schon ein Partner, wie man ihn sich schwieriger kaum vorstellen konnte. Der Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan macht die Dinge jetzt noch komplizierter. Die Sorge, dass der Nato-Partner künftig noch autoritärer regieren wird – und damit noch weniger berechenbar sein könnte – ist in Berlin erheblich.

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Dementsprechend wird seit Freitagabend, als die ersten Meldungen aus Ankara und Istanbul die Runde machten, innerhalb der Bundesregierung viel telefoniert. Wieder einmal Krisenmanagement, anfangs über viele Tausend Kilometer hinweg: Kanzlerin Angela Merkel erfuhr die Nachrichten bei einem Gipfeltreffen in der Mongolei, ihr Vize Sigmar Gabriel im Urlaub auf Amrum, Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Berlin.

Die Welt ist aus den Fugen

Mit einem Putschversuch in der Türkei hat keiner von ihnen gerechnet. Die Welt, so klagen die Topleute in Berlin schon seit längerer Zeit, ist eigentlich schon genug aus den Fugen. Allein die letzten drei Wochen: Brexit, neue Sorgen um den Euro, wieder ein Anschlag mit vielen Dutzend Toten in Frankreich, nun in Nizza. Noch mehr muss nun wirklich nicht sein. Und jetzt: Putschversuch in der Türkei.

Gleich nach den ersten Telefonaten ging die Bundesregierung zu den Generälen auf Distanz. In einer ersten offiziellen Erklärung – noch aus der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator – hieß es schon kurz nach 1 Uhr: „Die demokratische Ordnung muss respektiert werden.“ Zugleich wurden die Bundesbürger in Ankara und Istanbul zu höchster Vorsicht gemahnt. Geschätzt wird, dass sich jetzt, in der Hauptreisezeit, etwa 200 000 Deutsche in der Türkei aufhalten. Offensichtlich kam aber niemand von ihnen zu Schaden.

Nach der Rückkehr aus der Mongolei, am Samstag um 15.30 Uhr, ging Merkel in Berlin vor die Kameras. So etwas macht die Kanzlerin am Wochenende nur, wenn die Sache wirklich wichtig ist. Merkel verurteilte den Putschversuch, der zu diesem Zeitpunkt praktisch schon gescheitert war. Zugleich mahnte die CDU-Vorsitzende die Einhaltung demokratischer Werte an. „Gerade im Umgang mit den Verantwortlichen für die Ereignisse der letzten Nacht kann und sollte sich der Rechtsstaat beweisen.“ So oder so ähnlich klang das auch bei anderen. Justizminister Heiko Maas (SPD) warnte vor „Rache und Willkür“. Grünen-Chef Cem Özdemir meinte: „Es gibt keine Rechtfertigung für einen Militärputsch. Aber Erdogan ist deshalb noch lange kein Demokrat.“

Am deutlichsten wurde der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen (CDU): „Wir dürfen als Europäer nicht zum Komplizen der autoritären Machtansprüche von Erdogan werden. Das ist die klare rote Linie.“ Fast alle in Berlin erwarten, dass der „aufgeputschte Präsident“ („Der Spiegel“) die Türkei künftig noch autoritärer regieren wird. Die Säuberungswelle in der Armee läuft schon. Mehr als 2800 mutmaßliche Putschisten wurden am Samstag festgenommen, fünf Generäle und 29 Oberste entlassen. Im Visier ist aber auch die Justiz. Am Wochenende wurden bereits mehr als 2700 Richter „freigestellt“.

Foto: dpa

Kritiker befürchten, dass Erdogan und seine islamisch-konservative Partei AKP im Staatsapparat nun Jagd auf alle machen, die auch nur im Verdacht stehen, gegen ihn zu sein. Das wäre genau das Gegenteil von einem Kurs der Versöhnung, auf den in Deutschland noch einige gehofft haben. Die Türkei würde noch tiefer gespalten. Noch mehr Anschläge könnten die Folge sein – möglicherweise, wie Sicherheitsexperten schon länger argwöhnen, auch auf deutschem Boden. In der Bundesrepublik leben mehr als drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln. Auch hier sind die Gräben zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern groß. Viele Tausend Türken zogen am Wochenende vor die Botschaft in Berlin und die Konsulate. In Berlin klemmten türkische Taxifahrer die rote Flagge mit Halbmond und Stern, die aus EM-Zeiten noch im Kofferraum lag, ans Fenster.

Außerdem stellt sich die Frage, was mit den 240 deutschen Soldaten passiert, die auf der türkischen Luftwaffenbasis Incirlik im Einsatz sind. Die Bundeswehr beteiligt sich dort mit Tornado-Jets am Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) sagte unserer Redaktion: „Das werden die nächsten Wochen zeigen. Unser wichtiger Nato-Partner Türkei braucht starke, aber auch voll demokratisch kontrollierte Streitkräfte.“ Es sei ein gutes Zeichen, dass in den dunklen Stunden die demokratisch gewählten Parteien geschlossen gegen die Putschisten zusammengestanden hätten.

Wie geht es weiter auf Incirlik?

Wegen des Streits um die Armenienresolution des Bundestags lässt die Türkei keine Bundestagsabgeordnete zu den Soldaten. Deshalb gab es schon vor dem Putschversuch Forderungen, die Bundeswehr abzuziehen. Solche Töne könnten lauter werden. Der Bundestag hatte die Massaker im damaligen Osmanischen Reich 1915 an den Armeniern als Völkermord eingestuft.

Und was bedeutet der gescheiterte Putsch für den Flüchtlingsdeal mit der Türkei? Von deutscher Seite heißt es dazu, es gebe keinen Anlass, die Abmachungen infrage zu stellen. Schließlich sind die Leute, mit denen man sie getroffen habe, weiterhin im Amt. Zudem hat Erdogan auch ein Interesse an der Umsetzung – insbesondere damit die versprochene Visumfreiheit für Türken bald Wirklichkeit wird. Danach sieht es im Moment aber überhaupt nicht aus.

Klar ist allen in Berlin aber auch, dass man nun möglicherweise noch mehr von Erdogans Launen abhängig sein wird. Noch mehr als ohnehin.

Von Eva Quadbeck/Christoph Sator/Michael Fischer