Es stinkt

Einmal Kosovo-Deutschland und zurück

Den Abwasch machen oder Zähneputzen, all das muss an einem improvisierten Wasserhahn im Freien erledigt werden.
Den Abwasch machen oder Zähneputzen, all das muss an einem improvisierten Wasserhahn im Freien erledigt werden. Foto: Bartholomäus von Laffert

Ungesund faulig, als würde irgendwo in der Ecke ein toter Fisch vor sich hingammeln. „Das ist die Wand!“, ruft Sherentina Pamaj. Die Elfjährige zeigt nach oben, wo ein 50 Zentimeter breites Loch in der Decke klafft, durch das man den Himmel sehen kann. Von der Wand rinnt eine braune Suppe – es hat geregnet. Unter den Füßen knarzt der hölzerne Fußboden, Ameisen und Maden haben sich fett gefressen daran, während Sherentina mit ihrer Familie weg war.

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Auf der einen Seite des Raums steht eine metallene Kochplatte, auf der anderen ein Stapel abgewetzter Decken, die Sherentina, die vier Geschwister und die Eltern abends zum Schlafen auf dem Boden ausbreiten. „Ich will hier wieder weg“, flüstert Sherentina. „Ich habe nur einen Wunsch. Ich will heim. Heim nach Bischoffen.“ Sie schaut durch die zerborstene Scheibe nach draußen. Im Garten liegt noch der schwarze Koffer, PRN steht auf dem Gepäckbändchen. Pristina. Hauptstadt des Kosovo. Willkommen zurück.

Den Abwasch machen oder Zähneputzen, all das muss an einem improvisierten Wasserhahn im Freien erledigt werden.

Bartholomäus von Laffert

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Erinnerungen an glückliche Zeiten in Bischoffen: Nach den Hausaufgaben gingen die Kindern häufig zu Monique Lorenz und Maik Feister.

Bartholomäus von Laffert

Bartholomäus von Laffert

Kaum einen Monat ist es her, dass der Bus vorfuhr. Vor das Mehrfamilienhaus in Bischoffen, einem kleinen Ort in Hessen, in dem die Familie Pamaj lebte. Wo Sherentina und ihr Bruder Peperin die vierte Klasse der Grundschule besuchten, die Kleinen den Kindergarten. Dann klingelte der Mann von der Ausländerbehörde, den Ausreisebescheid in der Hand. Er brachte die Familie zum Flughafen nach Frankfurt und drückte ihnen die Flugtickets in die Hand: Frankfurt-Pristina. Der erste Flug des Lebens. Vergessen werden ihn die Pamajs nie.

Wo liegt eigentlich Wetzlar?

Heute sitzen sie aufgereiht vor dem, was wohl ein Haus sein soll. Vater Sahit Pamaj, daneben die Kinder. Daneben steht die Mutter mit dem Baby auf dem Arm. Irgendwann wird der kleine Junge sie fragen, warum Wetzlar als Geburtsort in seinem Pass steht. Nicht Skivjan. Nicht dieses Kaff, wo sich die Baracken aneinanderklammern. Eine erbärmlicher als die andere. In die Sahit Pamaj mit seiner Familie nie, wirklich gar nie zurückkehren wollte. Alles hatte er dafür verkauft: die Lampen, die elektronischen Geräte, sogar die Matratzen. „Ich hätte auch das Haus verkauft, aber bitte: Wer will so wohnen?“ Deshalb hatte er sich im November 2014 auf die Flucht gemacht. Flucht vor der Diskriminierung als Roma, Flucht vor dem Hunger, Flucht vor der Armut. Wirtschaftsflucht in der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Bis zu 100.000 Menschen haben 2014/15 laut Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in Transformationsökonomien (IAMO) in einem erneuten Exodus den kleinen Balkanstaat gen Europäische Union verlassen. Mehr als 40.000 davon haben einen Asylerstantrag in Deutschland gestellt. „Winterurlauber auf Kosten unserer Steuerzahler“, hat der oberbayerische Landrat Thomas Karmasin (CSU) sie genannt. Nach und nach kehren die Reisenden jetzt wieder heim. 15.000 sind schon zurückgekehrt aus Deutschland. Um eine Erfahrung reicher, um viele Tausend Euro ärmer.

Sahit Pamajs Bruder war damals gegangen, der Nachbar auch. „Das hatte sich rumgesprochen. Dass es da Arbeit gibt und einen Platz zum Wohnen. Wir hatten hier nichts zu verlieren, also sind wir gegangen.“ Dass 99 Prozent der kosovarischen Asylanträge abgelehnt, dass Leute in Charterflügen abgeschoben werden, das konnte Sahit Pamaj nicht wissen. Wer Lesen und Schreiben nie gelernt hat, kennt viele Informationen nicht. Auch die Inserate „Kein Asyl für Wirtschaftsflüchtlinge“, die die österreichische und die deutsche Bundesregierung auf Plakatwänden und Tageszeitungen geschaltet haben, nicht. Wer keinen Fernseher hat, kann nicht die Videos sehen, mit denen die Bundesregierung versuchte, die Leute zu desillusionieren. Aber was hätte die Pamajs schon desillusionieren können?

„Es gab einerseits tatsächlich die Gerüchte vom guten Leben in Deutschland“, erzählt Bernd Mesovic, Referent von Pro Asyl, „andererseits haben sich viele Minderheitenangehörige auch auf den Weg gemacht, wenn sie irgendeine Chance nahe null gesehen haben.“ Im Herbst 2015 wurde Kosovo mit Albanien und Montenegro vom Bundestag als sicheres Herkunftsland eingestuft. Bei Bernd Mesovic und Pro Asyl stieß das auf harsche Kritik: „Das ist der Versuch, die Welt über den Daumen gepeilt in ,sicher' und ,nicht sicher' einzuteilen – wie bei einem großen Autounfall, wo zuerst die Schwerverletzten versorgt werden.“

Mit der Einstufung kann die Bundesregierung in Zukunft Asylsuchende aus den Balkanstaaten ohne individuelle Prüfung des Einzelfalls in das Herkunftsland abschieben. Grund dafür ist auch die Annahme, dass sogenannte RAE-Minderheiten (Roma, Ashkali, Kosovo-Ägypter) im Kosovo zumindest gesetzlich nicht mehr benachteiligt werden. „Das entspricht nicht der Realität. Die Diskriminierung von Roma im Kosovo hat sich strukturell verfestigt“, sagt Mesovic. „Wenn Menschen auf der Straße beleidigt und geschlagen werden, kein Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung gewährleistet wird, dann kann das durchaus als kumulative Verfolgung verstanden werden – und die wäre im Asylverfahren zu berücksichtigen.“

Getrennt in arm und wohlhabend

Es ist die Realität von Skivjan, die Mesovic beschreibt. Mittendurch führt eine Schnellstraße, als hätte jemand eine schroffe Trennlinie ziehen wollen – zwischen Kosovo-Albanern zur Rechten, den Roma und Ashkali zur Linken. Auf der einen Seite stehen die Baracken mit den Menschen, die vom Schrottsammeln leben und die Wurzeln der Bäume ausbuddeln, die Albaner gefällt haben, damit es im Winter Feuerholz gibt.

Von der anderen Seite glotzen dreistöckige Neubauten auf das Elend herab. Nachts brennen Straßenlaternen. Die geteerten Straßen sind sauber gefegt. Vor einigen Häusern parken Autos, vor manchen ein Mercedes oder ein BMW. Dass hier die Kosovo-Albaner leben, ist schwer zu übersehen.

Von den Fenstersimsen wehen die Fahnen. Die albanischen mit den doppelköpfigen schwarzen Adlern auf rotem Grund. Die kosovarischen mit der Karte im Profil, den sechs Sternen darüber. Sechs Sterne, die ein wenig an die EU erinnern, von der der Kosovo einmal Teil sein will. Sechs Sterne, die aber vor allem die sechs Bevölkerungsgruppen repräsentieren sollen, die im Kosovo leben. Die Albaner, die Serben, die Türken, die Kosovo-Ägypter, die Roma und die Ashkali. Die in utopischen Träumereien zu einem homogenen Staat verschmelzen. Die in Wahrheit so separiert sind wie die Sterne auf dem Banner.

„Es fängt an bei der Geburt: Ein Albaner bekommt eine Geburtsurkunde in fünf Minuten, wir müssen fünf Tage warten. Seit Jahren fragen wir nach einer neuen Straße, und der Bürgermeister sagt uns: Ihr werdet auch in 100 Jahren keine haben. Bewerben sich auf eine Stelle ein Roma und ein Albaner, wird immer der Albaner genommen“, erzählt Sahit Pamaj. Es ist der ganz normale Kampf, den RAE-Minderheiten in einem sowieso schon geschundenen Land zu bestehen haben.

Mehr als 30 Prozent der Kosovaren haben keine Arbeit. Bei den Roma sind es ganze 95 Prozent. Zählbare Sozialhilfe vom Staat gibt es nicht, eine Krankenversicherung genauso wenig.

Sahits Frau schaukelt den kleinen Sohn in den Schlaf: „Wenn ein Kind krank wird, stirbt es“, sagt sie und beginnt zu weinen. An Schule ist gar nicht zu denken. „Wir haben ja nicht mal Geld für Stifte.“

„Die einzige Versicherung, auf die du im Kosovo zählen kannst, sind deine Cousins. Das einzige Sozialsystem, das in Kraft ist, ist die Familie“, sagt Albin Kurti. Der 41-Jährige mit den krausen, schwarzen Haaren ist der Gründer von Vetvendosje („Selbstbestimmung“), der größten Oppositionspartei im Land. Für die frustrierte Jugend ist der ehemalige Studentenführer Ikone und Hoffnung zugleich, viele sehen in ihm schon den nächsten Premierminister. Kurti kennt die Märchen der Regierenden nur allzu gut: 200 000 neue Arbeitsplätze hatte die stärkste Partei PDK um den neuen Präsidenten Hashim Thaci vor den Wahlen 2014 versprochen. Viel passiert ist seitdem nicht. Noch immer hängen die Kosovaren am Tropf der Diaspora. Ganze 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts machen die Überweisungen der ausländischen Verwandten aus. Im Unterschied zu den albanischen und serbischen Landsleuten haben die Mitglieder der RAE-Minderheiten meist nicht das Glück, dass es Verwandte als Gastarbeiter in Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu Wohlstand gebracht haben.

Der misslungene Quantensprung

Etwas skeptisch blickt Kurti vom sechsten Stock des Parteigebäudes auf das wirre Straßenbild Pristinas. Da unten reihen sich heruntergekommene Schuppen, in denen billiger Kaffee ausgeschenkt wird, an gläserne Shoppingtempel, teure Boutiquen an die Gerippe halbfertiger Hochhäuser. Roma-Jungen polieren Männern in Anzügen wahlweise die Schuhe oder verkaufen ihnen Zigaretten. Tatsächlich sieht es so aus, als hätte der Kosovo nach der Unabhängigkeitserklärung von Serbien 2008 einen Quantensprung gemacht – aber die Hälfte der Bevölkerung vergessen.

„Der Athisaari Plan, mit dem Europa den Kosovo in die Unabhängigkeit entlassen hat, erlaubt eigentlich kein Konzept von Mehrheit und Minderheit. Alle zusammen sollten eine nationale Gemeinschaft bilden. In Wirklichkeit wurde dabei aber vor allem der Kosovo-Serbien-Konflikt fokussiert, und die restlichen Volksgruppen wurden völlig vergessen.“ Kurti greift zu seinem schwarzen Kugelschreiber, teilt den Block mit einer dünnen schwarzen Linie. „Die Idee der Internationalen Gemeinschaft: Es gibt Verschiedenheit, daraus soll Vielfalt werden und aus Vielfalt Toleranz.“ Er wechselt auf die andere Seite der Linie: „Das ist falsch. Wenn wir als Nation existieren wollen, müssen wir das Konzept umwerfen: Wir müssen die Gemeinsamkeiten fokussieren, daraus wächst Solidarität. Aus Solidarität wächst Kooperation. So wie in normalen Staaten. Nicht in Krisenstaaten.“

Als Krisenstaat wird der Kosovo bis heute von der Internationalen Gemeinschaft gehandelt. Für Recht sorgt Eulex, die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union, für Ordnung die Kfor, eine multinationale Schutztruppe unter Nato-Kommando, mit ihren knapp 5000 Soldaten. „Wir brauchen Visionen für die wirtschaftliche Entwicklung dieses Landes“, sagt Kurti. „Entwicklung bringt Jobs, Jobs bringen Rechte – nur so können wir alle integrieren.“

Dass dieser Tag einmal kommen wird, glaubt Sahit Pamaj nicht mehr. „Hätte ich die Möglichkeit, würde ich wieder weglaufen. Unsere einzige Chance haben wir vertan.“ Jetzt steht er hier in Skivjan, das graue Sweatshirt spannt über seinem runden Bauch, doch mit den Gedanken ist er immer noch in Bischoffen in Hessen. Die Augen von Sherentina und Peperin fangen an zu glänzen, als sie die Collage von der Wand holen, die ihnen die deutschen Freunde zum Abschied geschenkt haben. Peperin ist ein bisschen stolz, als er die Fotos erklärt: Er und Sherentina beim Kinderfasching. Er als Spiderman, sie als Wildkatze. Zusammen mit den Freunden beim Drachensteigen. Tanzend beim Sommerfest. „In deinem Leben begegnest du vielen Menschen, aber nur wahre Freunde hinterlassen Spuren in deinem Herzen“, liest Sherentina den Spruch vor, der darüber geschrieben steht. Die Kinder haben Spuren hinterlassen.

Tränen beim Abschied für immer

„Jeden Tag haben die mich schon von der Arbeit abgefangen“, erinnert sich Maik Feister. Der 47-Jährige und seine Freundin Monique Lorenz, 41, waren für die Kleinen so etwas wie eine Ziehfamilie in Bischoffen. „Wir haben zusammen gebastelt, gemalt, Ausflüge gemacht. Ich vermisse die Zeit“, sagt Monique. Sie erzählt die Geschichten von dem frechen Peperin, der so gern Fußball gespielt hat. Von der wissbegierigen Sherentina, die bei ihnen nur Lina hieß und so schön malen konnte. Von dem Abschied, als sie ein Grillfest gemacht haben. Als sie geweint haben, weil sie irgendwann realisierten, dass es ein Abschied für immer sein wird. „Ich glaube, unsere Regierung hat keine Ahnung, was sie den Menschen antut“, sagt Monique. „Mir tun vor allem die Kinder leid: Dass die in diesem Dreck geboren wurden, dafür können die ja nichts.“

Bartholomäus von Laffert