Mainz

Die Realität im Paradies – Griechenland, Samos, Ende August 2015

Leonie Thüül aus Mainz war Ende August eine Woche auf der griechischen Insel Samos. Es hätten unbeschwerte Tage mit ihrem Vater werden sollen, doch schnell wurden sie in ihrer „Strandidylle von der Realität überrollt“, wie sie unserer Zeitung erzählt: Die 20-Jährige engagierten sich gemeinsam mit einer Freundin in der Flüchtlingshilfe, packten ein Auto voll mit Windeln, Bananen, Keksen und Wasser und fuhren los…

Lesezeit: 14 Minuten
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Wir sind zurückgekehrt, für den traditionellen Vater-Tochter Urlaub, nach Ireon- ein kleines verschlafenes Fischerdorf, das uns erwartet.

Vom Tourismus vergleichsweise übersehen liegt es direkt an der Südküste der griechischen Insel Samos. Von meiner angestammten Strandliege Nr. 41 blicke ich über blaue Weite bis zur Türkei, knapp zehn Kilometer trennen uns.

Sieben Tage im Paradies; ganz der Sucht nach dicken Büchern, gutem Moussaka und ausgiebigen Schnorcheltouren gewidmet, stehen mir bevor- das Abtauchen in eine andere Welt.

Drei Tage später holt die Realität uns ein.

Die Kofferraumklappe fällt ins Schloss, vier Türen knallen, wir sitzen in einem kleinen weiße Mietwagen, in Begleitung unserer Freundin Nadine und ihrer beiden Kinder: Maja, elf, und Linus, vier Jahre alt. Dann geht es los, mit fehlender Klimaanlage und geöffneten Fenstern, bei knapp 33 Grad tuckern wir über die Landstraße, durch Olivenhaine, Berg hoch und Berg runter, unser Ziel: Samos Stadt.

Die Landschaft zeigt sich von ihrer schönsten Seite, doch die Stimmung hält sich in Grenzen, das Radio dudelt leise vor sich hin, griechische Balladen begleiten die Szenerie.
Wir fahren mehrere Kilometer, wir halten uns nordöstlich an die Küstenstraße- und warten.

Wir biegen um die nächste Ecke: Und da kommen sie.
Die ersten Flüchtlinge, die wir an diesem Tag treffen, eine Gruppe junger Männer, kaum einer älter als ich selbst. Sie wandern in der griechischen Mittagshitze die asphaltierte Straße entlang, müde- doch eisern.

Wir fahren rechts ran, wir sind vorbereitet.
Unser Kofferraum ist randvoll gefüllt mit Obst, Windeln und Keksen, Wasser.

Als ich aussteige, spüre ich meine Nervosität; eine ganz neue Situation.
Der Kofferraum wird geöffnet, wir sprechen sie an, lächeln, Nadine und ich halten ihnen Wasserflaschen entgegen, fragen ob sie Englisch sprechen, Hilfe brauchen.
Die jungen Männer sind verwundert, verunsichert, fragen bloß nach einer Polizeistation, winken ab. Sie brauchen kein Wasser, nichts zu essen, sagen sie.
Aus Afghanistan kommen sie, verrät mir einer. Der Jüngste von ihnen, so alt wie mein 15-jähriger Bruder, lässt die Wasserflasche in meinen Händen nicht aus den Augen. Annehmen möchten sie jedoch nichts.
Wir fahren weiter, erstaunt doch nicht überrascht. Dass wir unsere Einkäufe an diesem Tag loswerden, bezweifeln wir nicht- im Gegenteil.

Die Aussicht fesselt uns nicht mehr, die atemberaubend steilen Klippen, die bis zum türkisblauen Meer hin abfallen säumen unsere Linke. Doch im Schatten einiger, hier oben weniger Bäume entdecken wir zu unserer Rechten die nächsten Tapferen, Erschöpften. Eine große Familie am Straßenrand, viele Kleinkinder, ein Mädchen mit erschreckenden Augenringen, sie scheint im Sitzen mit geöffneten Augen zu schlafen, nimmt uns nicht wahr, als wir nur einen halben Meter entfernt an ihnen vorbeifahren.
Noch während dem Parken auf dem Seitenstreifen, höre ich es durch mein geöffnetes Fenster: das leise Weinen eines Babys. Wir steigen aus, ein Mann nähert sich. Ich nehme an, der Vater des Babys.
Sein zaghaftes Lächeln, fragend gehobene Augenbrauen, Unsicherheit.
Doch Nadine ist schneller als jedes Bedenken, deutet in Richtung des Babys. „Diapers“?, fragt sie, hält dem Mann eine Windel entgegen, Wasser, lächelt. „Tamam“, sagt er, „Tamam“, legt die Hände zusammen, blickt uns direkt in die Augen, wehrt ab, als wir ihm noch mehr zustecken wollen- doch lächelt. Dankbar, fast ungläubig. „Alles in Ordnung“, wie uns später übersetzt wurde.

Plötzlich ein lautes Rufen, Schreie, ein kleines Mädchen mit braunen Locken tapst auf uns zu, mit großen Augen, mutigem Lächeln. Ein junger Mann hastet hinterher, nimmt sie am Arm, deutet auf die Fahrbahn, spricht in eindringlichem Ton in einer fremden Sprache. Erklärt ihr wohl, dass sie hier vorsichtig sein muss, erst schauen, dann laufen.
Die Kleine lässt uns währenddessen nicht aus den Augen, greift nach den Keksen, die ich ihr hinhalte, klemmt sich die Flasche Wasser unter den Arm, grinst.
Ich bin nicht die Einzige, die mit den Tränen kämpft und sich schwach fühlt; Nadine neben mir blickt verstohlen hinter sich. Aus dem geöffneten Kofferraum heraus beobachten zwei aufmerksame Gesichter die Situation von der Rückbank aus.
Linus dürfte im selben Alter sein wie das Kekse verschlingende Mädchen. Er darf das Auto nicht verlassen. Auch wir finden, es wäre zu gefährlich direkt an der Straße auszusteigen.
Die traurige Ironie der Gegensätze ist mir bewusst.
Die Familie kommt aus Syrien, wie uns der langsam auftauende Vater erzählt. Letzte Nacht sind sie mit dem Boot angekommen, bereits in sengender Hitze vom Strand bis hierher gelaufen, wenn sie den Hafen erreichen, haben sie auch diese Etappe geschafft. Eine Etappe von vielen.
„Good luck“, wünsche ich, deute gedrückte Daumen an, versuche ein schiefes Lächeln.
„Tamam“, sagt der Mann erneut, die Kleine winkt uns, wir steigen ein. Die Türen knallen.
Meine Mundwinkel zittern.

Einige Stopps später werde ich ruhiger, wir verstehen langsam, wie wir uns den Menschen trotz der häufigen Sprachbarriere nähern können, ohne dass sie Angst bekommen, sich unwohl fühlen.
Wie wir uns dennoch verständlich machen und ihnen etwas anbieten können.
Unser Großeinkauf an Windeln, Wasser, Keksen und Bananen für die Kinder wird rasch kleiner, wir ernten anfangs ungläubige, beim Abschied dankbare, ja sogar hoffnungsvolle Blicke.
Mittlerweile habe ich jede Menge Flaschen bei mir im Fußraum abgestellt. Manchmal muss es schnell gehen, reichen Wasser aus dem Fenster wenn wir nicht parken können, mal müssen wir rufen, winken, ihnen ein Stück hinterher gehen. Eine so offensive Art der Hilfe scheinen viele nicht zu erwarten, einige nehmen an, unser kleiner gemieteter Kastenwagen sei von der Polizei.

Ich spüre nichts anderes als das eindeutige Gefühl von Zwiespalt wenn ich zu unserem Auto zurückgehe.
Glück, überhaupt etwas getan zu haben, dass Nadine uns nach einem Besuch in der Stadt von den Menschen, den Zuständen, den Massen erzählt hat.
Darüber, wie friedlich, wie freundlich unser spontanes Angebot angenommen wird.
Rührung, wie viel diese Menschen auf ihrem Weg noch zurückzugeben haben- noch nicht alles an die Frustration und Ohnmacht verloren.
Niedergeschlagenheit, im Moment nur den „berühmten Tropfen auf den heißen Stein“ leisten zu können, doch vor allem eines: Scham.

Ich schäme mich an diesem Tag stellvertretend für jeden, der etwas tun könnte und lieber die Augen schließt, weil es dann einfacher scheint.
Für jeglichen Versuch der Politik, der Sache Herr zu werden, der im Hier und Jetzt für all diese Menschen, die erschöpft und schweißgebadet vor mir stehen, schlicht und einfach zu spät kommt.
Dafür, dass die Menschen mir mit glänzenden Augen und Händedruck für die 0,5er Flaschen Wasser danken, die im 24-er Pack im Supermarkt 3,69,- gekostet hat.
Unerreichbar für jeden, der die Währung Euro nun mal nicht hat.

Ich schäme mich stellvertretend für charakterlose, rechte Massen, die Flüchtlingsheime anzünden und mehr Parolen brüllen, als sie denken und empfinden können. Dafür, dass die Tortur vieler Flüchtlinge in diesen Regionen noch nicht beendet ist, selbst wenn ihre Reise eigentlich ein Ende gefunden haben sollte.

Ich schäme mich selbst, weil ich diese Zustände nicht erwartet habe- weil mir die Krise bewusst war und ich in meiner Strandidylle von der Realität überrollt werden musste, um zu begreifen.

Doch sind es nicht meine Reaktionen oder die Gedanken der anderen vier im Auto, die uns motivieren und von Begegnung zu Begegnung mehr staunen lassen…
Wir erleben pure Menschlichkeit auf der Straße, in einem Maße, wie ich sie in dieser Extremsituation kaum noch erwartet habe.

Wenn zwei junge Männer, nur noch mit Shorts, Hemdchen und dem Nötigsten in der Hitze unterwegs sind- die nassen Klamotten von der Überfahrt am Strand zurückgelassen- die Wasserflaschen und Kekse nicht annehmen wollen und uns weiterschicken, die Straße bergab, zu der nächsten flüchtenden Familie mit kleinen Kindern, weil sie es nötiger brauchen. Verzichten.
Sie deuten die Straße hinunter, in Richtung Küste.
Weit kann es nicht mehr sein, sagen sie. Eine Frau trägt ihr Baby- den ganzen Weg, die Berge hoch.

Wenn man solche Menschen trifft, fängt man an nachzudenken.

Wir finden die Familie bald, es sind drei Männer mit Rucksäcken, vier kleine Jungs und eine junge Frau, den Säugling trägt sie vor der Brust. Anfangs meidet sie den direkten Blickkontakt, wirkt schüchtern. Die Gruppe spricht sehr gutes Englisch. Sie sind erst vor einigen Stunden angekommen, tagsüber, seitdem laufen sie, sind auf dem Weg zum Anleger, zur Registrierung, danach zum Hafen, auf die Fähre, nach Mazedonien, zum Bahnhof, Richtung Norden. Sie fragen, wie weit der Hafen noch entfernt ist. Ungefähr sechs, sieben Kilometer antwortet mein Vater.

Die junge Frau nimmt dankbar die Windeln und Feuchttücher an, lächelt erleichtert als wir ihr noch Reservewindeln und Kekse in die Seitentaschen des Rucksacks stecken. Während sie von ihrer Überfahrt erzählen und die Kinder hastig trinken und sich über die Kekse hermachen, sehe ich mich um.
An der nächsten Straßenbiegung kommen bereits die nächsten. Es nimmt kein Ende. Mir fallen die orangeroten Punkte am Straßenrand auf. Rettungswesten, denke ich, natürlich. Vereinzelt sind mir während der gesamten Fahrt die herumliegenden Kleiderberge aufgefallen, abgelegt nach der Ankunft. Weniger Ballast, der die Berge hinauf muss.

Jemand tritt neben mich, nimmt mir die Kekse aus der Hand. Es ist Maja. Diesmal haben wir sicher parken können. Sie durfte aussteigen und verteilt nun sichtlich zufrieden und glücklich, endlich selber aktiv zu sein, Kekse an die Kinder. Ich bin beeindruckt von diesem Bild, einer strahlenden 11-Jährigen.
Als wir nach einem längeren Gespräch mit dieser Gruppe wieder einsteigen, haben Nadine und ich denselben Gedanken. Einen Bus bräuchte man, wenigstens für die Kinder und Mütter mit Säuglingen,
die Strecke ist bei dieser Steigung und Temperatur wirklich kaum zu schaffen.
Unwillkürlich denke ich an den staubigen, hügeligen Weg zu unserem Strand, den ich seit Jahren maulend hinter mich bringe. Nie wieder auch nur ein Wort…

Wir fahren an, wenden, winken und machen uns daran, den Berg wieder hinauf zu kommen. Doch unser Auto streikt unter diesen Bedingungen. Nach einmaligem Abwürgen schleichen wir im zweiten Gang im Schritttempo die kurvenreiche Straße wieder hinauf. Im Rückspiegel sehe ich die Familie…

Mama, höre ich Linus von der Rückbank, wenn ich ein Soldat wäre, würde ich die Kriegsraketen zu den Kriegern zurück steuern.

Unsere Wasservorräte neigen sich dem Ende zu, wir brauchen einen Supermarkt, eine Tankstelle und ein Hinweisschild, wie wir zum Hafen kommen, wo Hunderte auf die Papiere oder die nächste Fähre warten.
Schilder suchen allerdings nicht nur wir meist vergebens.

Auf unserem Weg zum Anleger passieren wir einen Mann, der im Schatten eines langersehnten Straßenschildes sitzt und auf den Boden starrt.
Nadine wird unruhig, wir wollen anhalten, aber sind kurz vor einem Kreisverkehr. Zu gefährlich, entscheiden wir, fahren einige hundert Meter weiter, drehen und halten letztlich mitten in einer Zufahrt des Kreisels.
Neben einer verhüllten älteren Frau mit drei kleinen Kindern, das Jüngste kann gerade laufen. Sie sitzen direkt am Bordstein, ein Junge spielt mit einem Spielzeugauto auf der Fahrbahn, als wir aussteigen. Sie versteht uns nicht, aber nickt, als wir ihre Kinder mit dem Nötigsten versorgen. Wir sind ratlos. Dass sie am Ende ihrer Kräfte ist und in der nächsten Zeit sicherlich erstmal keinen Schritt mehr tun wird, sieht auch Maja. Wir überlegen die kleine Familie runter zum Hafen zu fahren und so lange oben zu warten, doch sie zeigt mit dem Finger die Straße hinunter, sagt etwas in einer anderen Sprache. Wir warten. Schließlich taucht der Mann auf, bei dem wir zuvor nicht halten konnten. Er humpelt deutlich.

Während wir versuchen, unser Angebot deutlich zu machen fahren etliche Autos vorbei, Touristen, griechische Familien. Viele äußern ihren Unmut darüber, dass wir die Straße teilweise blockieren, starren ungläubig herüber. Ein Auto hält dennoch einige Meter weiter, zwei Frauen steigen aus, eine kommt energisch auf uns zu gelaufen und ich mache mich auf eine Auseinandersetzung gefasst. Doch sie bringt, was sie im Auto findet: Bonbons für die Kinder, Feuchttücher, berät uns, wo wir am besten einkaufen können und wo Menschen auf welchen nächsten Schritt warten, was sie am dringendsten brauchen.
Sie ist auch fast jeden Tag unterwegs, sagt sie, neben ihrer Arbeit. Sie sieht erschöpft aus.
Danach fährt sie die ganze Flüchtlingsfamilie runter zum Anleger zur Registrierung. Wir sehen alle fünf wenig später unten am Wasser wieder, wo die Menschen auf ihre Papiere warten, eine geschriebene Nummer auf ihrer Hand.
Dort sehen wir zum ersten Mal eine Organisation vor Ort, das Rote Kreuz, deren Mitarbeiter uns freundlich empfangen und Tipps geben. Nadine unterhält sich mit ihnen über die Verpflegung der Mütter und Kleinkinder, übergibt die restlichen Windeln. Maja und ich gehen umher, Kekse nehmen die Kinder gerne, doch Wasser haben die meisten. Der Großteil liegt auf dem Boden im Schatten, schläft, ruht sich in der Mittagshitze aus. Drei Mädchen sitzen auf einer Wolldecke, starren aufs Wasser, staunen als Maja und ich ihnen eine ganze Packung Kekse öffnen und hinstellen. Die Stimmung ist weitgehend friedlich- erschöpft aber entspannt.

Wir fahren weiter zum nächsten großen Supermarkt, Einkauf Nr.2.
Mit noch mehr Windeln, Bananen, Keksen und Wasser kommen wir am Hafen an, einem schmucklosen Parkplatz, durch ein Metallgitter abgetrennt befindet sich der teils überdachte Wartebereich für die Menschen dort.
Wir parken, sprechen uns ab. Bananen für die Kinder, Wasser verteilen so gut es geht, Kekse einzeln, Windeln und Tücher an die Mütter. Maja bleibt bei mir, wir werden anfangs gar nicht beachtet, keine Polizei, keine Aufsicht oder Betreuung, nur ein Bus, der ab und zu eine neue Gruppe Menschen von der Registrierung zum Hafen bringt. Davon abgesehen nichts. Kein Versorgungszelt, keine sanitären Anlagen, bloß ein kleiner Imbiss an der Zufahrt. Ohne Geld, kein Imbiss, denke ich.

Als wir den ersten Kindern Bananen reichen und die Kekspackungen aufreißen, zittern meine Finger.
Die Situation ist unwirklich, die meisten Familien sitzen hinter dem Gitter auf dem Boden oder auf der einzigen langen Bank, müssen unsere kleinen Notwendigkeiten durch das Gitter annehmen, die Finger hindurch stecken. Als Nadine zu mir zurück geeilt kommt, um die Feuchttücher aus meiner Tasche zu holen, höre ich von ihr das Wort Gefängnis.
Und es stimmt. Ich habe das Gefühl etwas Unerlaubtes zu tun, suggeriert durch die menschenunwürdige Situation. Wir gehen weiter- eine Elf- und eine Zwanzigjährige, die mit Nahrung und Wasser von Gruppe zu Gruppe gehen, Kinder ansprechen, den Müttern aufmunternd zunicken und abwinken, wenn die Väter zum dritten Mal kommen und danken.
Eine Mutter erzählt uns, sie haben seit drei Tagen nichts gegessen. Ein älterer Junge, um die 16 Jahre alt, lehnt das ihm angebotene Obst ab, dreht sich um, zeigt auf die andere Straßenseite, die ich bislang gar nicht wahrgenommen habe. Gar nicht wahrnehmen konnte, weil hinter dem Gitter immer mehr Kinder verstanden, was wir da verteilten, schüchtern die Hände ausstreckten und neugierig wurden. Die Bananen passten nicht durch die Metallvierecke, ich musste mich auf Zehenspitzen stellen, das Obst über den Zaun nach drüben reichen und hoffen, dass ich die einzige war, die das volle Ausmaß dieser Demütigung wahrnahm.

Doch mit dem Wenigen, was ich noch habe, folge ich dem 16-Jährigen zu seiner Familie. Ich hocke mich zu ihnen in den Sand, halte die Tüte auf. Zeige, was ich ihnen geben möchte. Sein Vater sitzt links von mir, ein Kleinkind auf dem Schoß, vielleicht ein Jahr alt. Er lächelt, doch lehnt ab. Die restlichen Kinder greifen zu. Eine Banane ist am Ende übrig, auch der ältere Bruder hat sich überreden lassen. Noch einmal drehe ich mich zu dem Vater um, zeige auf das Kind auf seinem Schoß, nicke. Er blickt in die Runde, betrachtet die Situation und mich einen Augenblick länger, ich fühle mich wie in einer Prüfung. Schließlich lächelt er und nickt, nimmt die Hand seines Sohnes und hilft ihm, das Obst aus der Tüte zu nehmen.
Es fühlt sich an wie ein Sieg.

Als ich zum Rest unserer kleinen Gruppe zurückkehre, stehen sie alle in einer großen Runde mit mehreren Männern. Einer davon ist der Anführer einer 35-köpfigen Gruppe aus Syrien, wie mir erklärt wird. Er legt meinem Papa gerade die geplante Route dar. Die Abendfähre um 19 Uhr, zur Registrierung nach Athen, über Mazedonien soll es bis nach Belgien gehen. Eine unheimlich große Verantwortung.

Er ist ein gebildeter, offener Mann, der gut und höflich mit uns englisch spricht und noch in mehreren Fällen bei der Übersetzung helfen wird. Jemand zieht an meinem Ärmel und tippt mir auf den Arm. „Shoes“, sagt eine ältere, kleine Frau fragend zu mir, wiederholt es, zeigt auf meine FlipFlops, deutet zum Metallgitter. „Feet“, versucht sie es anders, winkt uns zu und bringt uns zu ihrer Tochter. Sie kommt durch ein meterhohes Fenster im Zaun auf unsere Seite geklettert und steht nun vor uns. Barfuß.
Der Leader kommt sofort und übersetzt. Die Kleine hat bei dem Marsch über die Insel ihre Schuhe verloren, noch bevor sie feste Straßen erreicht haben. Ich möchte meine Schuhe anbieten, doch sie sind viel zu groß. Ich sehe, wie Nadine auf die FlipFlops ihrer Tochter Maja linst.

Einkauf Nr. 3

Dieses Mal lassen wir die Kinder bei meinem Papa im Auto. Wir kommen mit FlipFlops Größe 33 für 1,99 Euro, mehr Wasser und knapp 9 Kg Bananen wieder hinaus. Die Blicke der anderen Leute ignorieren wir. Ich weiß nicht, ob ich jemals zwei Euro so sinnvoll investiert habe, wie an diesem Tag.
Als wir aussteigen, erwartet uns der Vater des barfüßigen Mädchens. Der halbe Hafen beobachtet uns. In diesem Moment weiß ich genau, wieviele dieser Menschen gespannt waren, zweifelten ob wir wiederkommen würden. Für FlipFlops.
Bereits im Auto stellt Maja klar, dass sie dem Mädchen die Schuhe überreichen will, persönlich.
Und das tut sie- mit einem Stolz, der mich ansteckt.
Noch einmal öffnen wir den Kofferraum, laufen umher, versuchen, so gerecht wie möglich zu sein und schließlich kommt Bewegung in die Masse. Auch jede Menge Erwachsene nähern sich, nehmen ein paar Kekse, kommen uns mit ihren Kindern entgegen. Wir stehen in einer Gruppe hungriger Männer, ich erkenne einige, denen ich zuvor bereits erfolglos etwas angeboten habe. Nun greifen auch sie schüchtern zu. Ich hole eine neue Tüte Bananen, als ein Mann auf uns zukommt, die Arme weit ausgestreckt und vor uns stehen bleibt. Er wartet, bis er die ungeteilte Aufmerksamkeit von uns fünfen hat, dann erst fängt er an zu sprechen. Er deutet zu den wartenden Menschen, spricht laut und immer mehr hören zu, schauen uns an. Er dankt uns im Namen aller Menschen, die hier sind und denen wir helfen wollen, alle sind sehr gerührt, sagt er. Dass wir hinsehen. Wir haben ein großes Herz.
Das Mädchen mit den FlipFlops steht neben ihm.
Es ist das aufrichtigste, herzlichste Dankeschön, das ich je bekommen habe. Ich bin gerührt, als er uns der Reihe nach die Hand gibt. Ich sehe verschwommen.

Schließlich sind auch die letzten Einkäufe verteilt, alles ist leer. Man könnte ewig so weitermachen, es nimmt kein Ende.
Als wir unsere leeren Tüten im Auto verstauen und uns verabschieden, kommt eine Frau zu uns gelaufen, die Mutter des Mädchens. „Shoes“, ruft sie noch einmal, nimmt mich beherzt in ihre Arme und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
Es kann so einfach sein, denke ich.

Am nächsten Morgen.
Von meiner angestammten Strandliege Nr. 41 blicke ich über blaue Weite bis zur Türkei, knapp zehn Kilometer trennen uns.
Ich denke an all die Menschen, die wir kennengelernt haben, frage mich, wo sie wohl gerade sind, wie sie die nächste Tage, Wochen überstehen, wo sie wohl ankommen und sesshaft werden, wenn ihre Reise irgendwann zu Ende gehen darf.
Ich denke an die Familie, die wir an diesem Morgen gesehen haben, durch das kleine idyllische Fischerdorf wandernd- mit einem behinderten Kind im Rollstuhl.
Ich denke an all die Menschen, die dieses Stück der Reise noch vor sich haben, dort drüben auf das nächste Schleuserboot wartend an der Küste sitzen; betend, hoffend, zitternd, ob alles gut gehen wird.
Am nächsten Morgen wird man ihre Rettungswesten am Strand finden. Sie die Berge hochlaufen sehen.

Einen Tag lang waren wir unterwegs, haben Dutzende, Hunderte Menschen auf der Flucht getroffen, geholfen soweit es ging, uns dem „Tropfen auf dem heißen Stein“ bewusst.
Das Lieblingsargument der Kritiker.
Und doch haben wir die Situation gesehen, die Menschen erlebt, die Notwendigkeit gespürt.
Es hat sich gelohnt.

Mein Lieblingsargument.