London

Die ewigen Quertreiber

Die ewigen Quertreiber Foto: nerthuz - Fotolia

Großbritannien stimmt in wenigen Wochen über den Verbleib in der EU ab. Das Referendum am 23. Juni hat wegweisende Bedeutung für das Land, aber auch für ganz Europa. Was passiert, wenn? Wir beantworten die wichtigsten Fragen zum Referendum und zu den Szenarien danach.

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Warum stimmen die Briten über die EU-Mitgliedschaft ab?

Das Referendum ist eng mit dem Namen David Cameron verbunden. Der Tory-Premier löst damit ein Versprechen aus dem Jahr 2013 ein, das zu einem Gutteil innenpolitisch motiviert war. Forderungen danach kamen nicht zuletzt aus den Reihen seiner eigenen Partei. Aber auch das Erstarken der Euro-skeptischen Ukip auf der Insel spielte eine Rolle. Zuletzt stimmten die Briten 1975 über eine Mitgliedschaft in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ab. Seitdem habe sich die Gemeinschaft stark verändert, so die Begründung für das Referendum.

Woher kommt eigentlich der Begriff Brexit?

Brexit ist ein Kunstwort aus Britain und Exit. Es bezeichnet einen Austritt Großbritanniens aus der EU und ist nach dem Vorbild des Grexit geprägt. Dieser Begriff, der ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro bezeichnete, entstand auf dem Höhepunkt der Griechenland-Krise und wird dem Citigroup-Ökonomen Ebrahim Rahbari zugeschrieben. Der griffige Ausdruck Brexit ist wie geschaffen für soziale Medien. Das Wort „Bremain“ – das einen Verbleib Großbritannien in der EU bezeichnet, konnte sich dagegen nicht durchsetzen.

Was sind die Argumente der Brexit-Befürworter?

Befürworter eines Brexit wie der ehemalige Bürgermeister Londons, Boris Johnson, argumentieren, dass Großbritannien als drittgrößter Nettozahler in der Union ein Verlustgeschäft mache. Ein weiteres Argument ist die Kontrolle der Grenzen. Unionsbürger haben das Recht, sich im Königreich niederzulassen. Derzeit leben und arbeiten dort mehr als zwei Millionen Menschen aus anderen EU-Ländern. Sie belasten angeblich die sozialen Sicherungssysteme – Studien widerlegen dies jedoch. Die in den Augen vieler Briten ausufernde Regulierung durch Brüssel sorgt zudem für Unmut. Brexit-Befürworter halten die EU für nicht ausreichend demokratisch legitimiert und wollen die Rückbesinnung auf nationale Souveränität.

Und wie argumentieren die Brexit-Gegner?

Die Gegner eines Austritts warnen in erster Linie vor wirtschaftlichen Konsequenzen. Einem Gutachten des britischen Finanzministeriums zufolge würde ein Brexit jeden Haushalt in Großbritannien 4300 Pfund pro Jahr kosten. Der Grund: Das Land müsste neue Freihandelsabkommen abschließen, Investitionen aus Drittstaaten könnten zurückgehen, und Banken könnten nach Kontinentaleuropa abwandern. Die Folge: eine Rezession.

Wird Schottland sich abspalten, falls es zum Brexit kommt?

Umfragen zeigen, dass etwa zwei Drittel der Schotten in der EU bleiben wollen. Die Frage ist eng mit der nach einer schottischen Unabhängigkeit verknüpft. Im Falle eines Brexit könnte es zu einer zweiten Volksabstimmung um eine Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich (UK) kommen, kündigte Regierungschefin Nicola Sturgeon an. Ein erstes Referendum zur Unabhängigkeit scheiterte 2014. Irlands Premierminister Enda Kenny befürchtet eine Ansteckungsgefahr, sollte die britische Wirtschaft infolge eines Brexit schrumpfen. Nach den USA ist das Vereinigte Königreich der größte Importeur irischer Waren. Ein Drittel aller Importe Irlands stammt aus Großbritannien. Spekuliert wird auch, dass es wieder zu Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland kommen wird.

Wie wichtig ist Großbritannien denn für Deutschland als Handelspartner?

Großbritannien ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Im vergangenen Jahr verkauften deutsche Unternehmen Waren im Wert von 90 Milliarden Euro in das Königreich. Trotzdem hält der Geschäftsführer der deutsch-britischen Außenhandelskammer (AHK), Ulrich Hoppe, die Gefahr für überschaubar. Dass es bei einem Brexit zu Zöllen oder Einfuhrbeschränkungen kommt, glaubt er nicht. Mehr Auswirkungen könnten langfristig andere Handelshemmnisse haben, beispielsweise unterschiedliche Standards in der Produktsicherheit. Doch auch hier habe Großbritannien mehr Schaden zu befürchten als Deutschland.

Was denkt Londons City, was würde aus dem britischen Pfund?

Die Folgen eines Brexit für den Finanzplatz London – die City – sind unter Experten wie Bankern umstritten. Eine Seite beschwört bereits den Untergang der Londoner City für den Austrittsfall, andere sagen ihr eine goldene Zukunft voraus, fernab von lästigen EU-Vorschriften. Befürchtet wird vor allem, dass zum Beispiel US-Banken nach Paris oder Frankfurt abwandern könnten, um ihre Finanzprodukte weiterhin ungehindert in EU-Staaten verkaufen zu können. Zudem könnte die Europäische Zentralbank (EZB) versuchen, den lukrativen Devisenhandel mit dem Euro aus London abzuziehen. Das britische Pfund würde zumindest kurzfristig an Wert verlieren.

Was schätzt die EU am ewigen Quertreiber Großbritannien?

Die EU ist durch die – nicht zuletzt von Großbritannien vorangetriebene – Erweiterung ein vielstimmiges Orchester geworden. Arme Länder haben andere Interessen als stark industrialisierte, neue Staaten andere als etablierte, südliche andere als nördliche. Für die Kernländer Deutschland und Frankreich ist Großbritannien trotz aller Unterschiede und Widerstände vor diesem Hintergrund ein Partner, der zwar selten als verlässlich angesehen wird, aber zumindest außen- und haushaltspolitisch ähnliche Grundinteressen vertritt. Außerdem wird Großbritanniens Funktion als diplomatische Atlantik-Brücke in die USA geschätzt.

Würde ein Austritt Großbritanniens einen Dominoeffekt bewirken?

Das ist die große Befürchtung in Brüssel. Ob es dazu kommen würde, ist offen. Tatsache ist: In vielen Ländern haben antieuropäische Strömungen zuletzt viel Zulauf bekommen. Die Bewegung der Nationalistin Marine Le Pen etwa in Frankreich, die AfD in Deutschland. In der europäischen Bevölkerung ist die Skepsis gegenüber Brüssel Umfragen zufolge groß. Auch wenn es nicht gleich zu Austritten kommt: Die Forderungen vieler Länder an Brüssel könnten mit der Androhung von Austritten viel mehr Nachdruck erhalten. Eine Umfrage des Instituts Ipsos in neun großen EU-Ländern hat ergeben, dass die Ansteckungsgefahr eines Brexit allgemein als hoch angesehen wird.

Die SchicksalsfrageDas wird spannend: Bleibt Großbritannien in der EU oder nicht? Heute stimmen die Briten darüber ab. Was hat die Menschen am Tag vor der Abstimmung bewegt?
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Foto: Axel Bueckert -

Was könnten Folgen für die Sicherheit sein?

Auch die nationale Sicherheit sehen die Gegner eines Brexit in Gefahr. Polizei- und Geheimdienstinformationen könnten nicht mehr so leicht ausgetauscht werden wie bisher. Dies könnte angesichts der starken Dienste in Großbritannien auch Informationsverluste für Europa – etwa im Kampf gegen Terror – bedeuten. Auch der Europäische Haftbefehl, der die Übergabe von Tätern regelt, die in ein anderes EU-Land geflohen sind, würde möglicherweise außer Kraft gesetzt. Militärische Folgen sind dagegen kaum zu befürchten. Großbritannien als Atommacht und enger Verbündeter der USA lehnt eine militärische Zusammenarbeit auf EU-Ebene ohnehin weitgehend ab. Kommentatoren sehen aber für solche Abschottungsbestrebungen auch Grenzen: „Großbritannien ist historisch und geografisch eng mit dem Kontinent verknüpft“, sagt Nick Witney, früher Chef der Europäischen Verteidigungsagentur.

Brauchen Europäer künftig ein Visum, wenn sie nach London wollen?

Das ist für die meisten EU-Länder nahezu auszuschließen. Dennoch: Es müssten Einzelfallregelungen mit jedem Land zur Visumfreiheit geschlossen werden. Betroffen könnten auch Regelungen sein, die die EU mit Drittländern, aktuell gerade mit der Türkei, schließt. Sie würden dann möglicherweise nicht mehr für Großbritannien gelten. Allerdings ist davon auszugehen, dass die Briten Übergangsfristen gelten lassen würden. Großbritannien hatte 2004 bewusst mehr Osteuropäer ins Land gelassen als viele andere EU-Länder, weil Arbeiter benötigt wurden. Harte Regelungen nach einem Brexit würde ganze Branchen, etwa in der Hotellerie oder auf dem Bau, ausbluten lassen. Daran hat Großbritannien, das einen riesigen Investitionsstau im Hoch- und Tiefbau hat, kein Interesse. Allerdings warnt Dominic Raab, eine der führenden Pro-Brexit-Figuren: „Briten könnten künftig für Reisen nach Europa ein Visum benötigen.“

Was ist für Großbritannien die Alternative zur EU?

Die Briten glauben, sie können sich künftig stärker an außereuropäische Länder binden. Die besondere Verbindung zu den USA spielt dabei eine Rolle, aber auch die Erinnerung an vergangene Großmachtzeiten als Kopf des British Empire. Dessen Überbleibsel ist der Commonwealth of Nations mit vielen kleinen, unbedeutenden Mitgliedern, aber auch aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Indien. Gerade bei den Millionen von indischen Zuwanderern und ihren inzwischen britischen Nachfahren ist die Lust am EU-Ausstieg groß. „Der Brexit hat seine Wurzeln im britischen Empire“, sagt deshalb der „New Statesman“.