Gehlweiler

Die andere Heimat in einer Welt von 1850

Foto: Dupuis

Für einen Sonntagvormittag ist in Gehlweiler unfassbar viel los. Der Kiesschotterplatz vor dem Baufachmarkt am Ortsrand ist voll. Dauerbelegt von Einheimischen, Fremden, Neugierigen. Sie wollen sehen, wie das Kulissendorf aussieht, das hier für den neuen Film „Die andere Heimat“ des Regisseurs Edgar Reitz entstanden ist.

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Zwei Tage vor Drehbeginn haben die Gäste den Ort im Griff. Ein Schild weist darauf hin, dass es „bei Anni“ Kaffee, Kuchen und Getränke gibt. Im Garten daneben weht eine Fahne des 1. FC Kaiserslautern, und das überdimensionale Trampolin für Kinder grenzt direkt an eine Fassadenrückwand. Dahinter lebt die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts.

„Die erste Generation, die auf dem Land lesen und schreiben konnte, ist die Auswanderergeneration.“

(Edgar Reitz über die Zeit um 1850, in der auch eine Welle der Aufklärung einsetzte)

Es gibt wenige Themen im Hunsrück, die dieser Tage so im Gespräch sind wie der Kinofilm von Reitz über die Auswanderung in den 1850er-Jahren. Die Schaulustigen kommen aber auch von weit entfernt, aus Offenbach, Friedrichshafen, Köln. Sie wollen die Kulissen sehen, die links und rechts der Hauptstraße in Gehlweiler entstehen. Handwerker wuseln seit Wochen durch den Ort und zimmern die Historie zurecht. Hier entsteht ein cineastischer Blick in ein wenig bearbeitetes Kapitel der deutschen Geschichte. Reitz hat „Die andere Heimat“ auf der Basis der „Heimat“-Trilogie erschaffen, die den Hunsrück international bekannt gemacht hat. „Aber der Film hat nicht den Zweck, Vorgeschichte zur ,Heimat’ zu sein“, erklärt der 79 Jahre alte Regisseur. Dabei wird Gehlweiler wie einst der Ort Woppenroth den Filmnamen Schabbach tragen.

Gehlweiler ist ein beschauliches Dorf. 250 Menschen leben hier zwischen Feldern und Wald, der Simmerbach schlängelt sich gemütlich vorbei in Richtung Nahe. Die Häuser schmiegen sich in einen sanften Berghang, der hinauf in den Soonwald und zur historischen Burg Koppenstein führt. Nur wenige Zeugnisse gibt es von der Zeit, als die Koppenstein Mitte des 15. Jahrhunderts ihre Blüte erlebte und die Grafen zu Sponheim von dort über die Region herrschten. Ähnlich ist es mit der Zeit der Auswanderung, die heute etwas verklärt dargestellt wird. Um 1850 gab es vor allem deshalb eine Auswanderungswelle, weil die Zeiten hart waren: Hungersnöte, Existenzängste, Perspektivlosigkeit. Rund fünfeinhalb Millionen Menschen verließen ihre deutsche Heimat, um eine andere zu finden und neue Existenzen aufzubauen. Viele Hunsrücker zog es nach Brasilien.

Jakob Simon – der im Reitz-Film vom jungen und aus Kastellaun im Hunsrück stammenden Studenten Jan Schneider gespielt wird – träumt von dieser neuen Welt. Der romantisch veranlagte Sohn einer Bauernfamilie glaubt an das Paradies in den Urwäldern Brasiliens. So haben es die beiden Drehbuchautoren Edgar Reitz und Gert Heidenreich erfunden. Sie erzählen die Familiengeschichte der beiden Simon-Brüder Jakob und Gustav, die letztlich vor der Frage stehen: gehen oder bleiben? Dahinter verbirgt sich die Geschichte einer Generation des Aufbruchs. „Hinter der Auswanderungswelle steckt eine besondere Energie“, sagt Reitz. „Mitte des 19. Jahrhunderts hatten wir zum ersten Mal auch eine Welle der Aufklärung.“

Der Regisseur kann in wundervollen Bildern erzählen, wenn er über die gedankliche Entstehung der „anderen Heimat“ spricht. Der in Morbach im Hunsrück geborene Wahl-Münchener erinnert an die Einführung der Schulpflicht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts und daran, dass bald auch auf dem Land erste Zeitungen erschienen. „Die erste Generation, die auf dem Land lesen und schreiben konnte, ist die Auswanderergeneration.“ Die Menschen waren erfüllt von ihrer Fantasie und den Gedanken daran, wie es in Ländern wie Brasilien aussehen könnte – und daraus entstand ihre Motivation, die Heimat zu verlassen, um eine neue zu finden. „Davon erzählt der Film“, sagt Reitz.

„Wir machen gern mit. Bei der ,Heimat´ war Woppenroth der Mittelpunkt der Welt, jetzt ist Gehlweiler der Mittelpunkt der Welt – das wird in 100 Jahren nicht wieder der Fall sein.“

(Gehlweilers Bürgermeister Kurt Aßmann)

Reitz sitzt im Gemeindehaus von Gehlweiler und skizziert den Inhalt eines besonderen Kinofilms, der erst durch die Förderzusagen – unter anderem vom Land Rheinland-Pfalz – möglich wurde. „Ein historischer Film ist per se außerordentlich teuer, da alles verändert werden muss. Es muss eine Welt entstehen, wie sie vor 200 Jahren war“, sagt Günter Rohrbach, langjähriger Filmchef des Bayerischen Rundfunks und heute Mentor des Reitz-Projekts.

Wer hinaustritt aus dem Gemeindehaus von Gehlweiler, stößt auf belebtes Treiben. Die Fassaden sind nahezu fertig, überall wird an Details gefeilt. An diesem Sonntag erläutert ein Schild, dass Besucher erst ab 12 Uhr in den abgesperrten Bereich hineindürfen, in dem noch massiv gearbeitet wird. Die Szenerie ist aber auch aus ein paar Metern Entfernung beeindruckend: Eine Tiefbaufirma aus dem Nachbarort hat lastwagenweise Lehm und Steine herangefahren, um die Teerdecke der Hauptstraße mit einem buckeligen Belag zu bedecken, der historisch wirkt. „Zwischen 20 und 50 Zentimeter Lehm wurden aufgebracht“, erläutert Toni Gerg, der für das Szenenbild verantwortlich ist. 16 Häuser wurden mit Nebengebäuden aufgebaut, teils wurden sie auf bestehende moderne Häuser montiert. Sechs Häuser mitten im Dorfkern wurden sozusagen historisch eingeschalt, die Bewohner haben nun einen Aufbau aus Holz und Styropor vor ihren Fenstern und Türen. Aus weißen Kunststofffenstern wurden braune Holzfenster gemalt, deren Scheiben Risse haben.

Gehlweiler wird auf diese Weise zum historischen und fiktiven Ort Schabbach. Die Parallelität des Namens hat damit zu tun, dass Reitz für die „Heimat“ schon vor 30 Jahren einige Szenen rund um die alte Gehlweiler Schmiede gedreht hat, die nun erneut ins Zentrum rückt. Rund um die Schmiede ist ein kleines Bauerndorf des 19. Jahrhunderts entstanden mit Häusern aus Fachwerk, schmutzigen Wänden und Dächern aus Stroh.

Die Gäste, die sich an diesem Sonntagvormittag ein Bild davon machen wollen, zücken ihre Mobiltelefone, um eine Zeit zu fotografieren, die Reitz gefühlvoll auf die Kinoleinwand bringen wird. Er trägt die Erinnerung an die Auswanderung wie einst die Geschichte der Heimat in die Welt – und den Hunsrück gleich mit.

Von unserem Redakteur Volker Boch