Wolfsburg

Der Diesel-Krimi: Ein Jahr nach der Enthüllung

Der Diesel-Krimi Foto: picture alliance

Wer den Schaden hat, braucht bekanntlich für den Spott nicht zu sorgen. Bei Volkswagen gilt das für einen internen Umweltpreis, den der Autobauer vor einigen Jahren an Entwickler des Dieselmotors EA 189 vergab – inzwischen bekannt als Skandalantrieb aus der Abgasaffäre. VW lobte mit der damaligen Auszeichnung die „intelligente Motorsteuerung“ und die „innermotorischen Maßnahmen“.

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Von Heiko Lossie und Jan-Henrik Petermann

Heute weiß die ganze Welt: Mit genau dieser Maschine wurde am Ende millionenfach betrogen. Die Mitteilung zum Preis ist inzwischen von den VW-Internetseiten gelöscht. Wenige Wochen „Dieselgate“ im Herbst 2015 reichten, um aus einem erfolgsverwöhnten Autobauer ein weitgehend verunsichertes Unternehmen zu machen. Die Abgaskrise kratzt heftig an der Industrie-Ikone VW.

Ein Jahr nach dem Bekanntwerden des Skandals ist aber auch klar: Der Wolfsburger Autoriese muss und will das alles zugleich als Chance zum Neubeginn nutzen – und das Erbe des Dieseldebakels in eine Zeit der Ökoantriebe, Dienstleistungen und schlankeren Strukturen überführen.

Am 19. September 2015 sieht es noch so aus, als könne Volkswagen kein Wässerchen trüben. Tags zuvor hatten Umweltbehörden in den fernen USA zwar mitgeteilt, dass es bei Abgasmessungen von VW-Modellen nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Die Pressestelle aber tritt an jenem Samstag erst mal neuerlichen Gerüchten entgegen, der Konzern treibe einen Einstieg in die Formel 1 voran. Das seien bloß Spekulationen. Nur einen Tag später – am 20. September – endet die Rekordfahrt im größten Crash der rund 80-jährigen Konzerngeschichte. Die Wolfsburger müssen öffentlich Manipulationen an ihren Dieselmotoren einräumen.

Die Bilanz für die Wolfsburger Autobauer ist katastrophal

Dann geht es Schlag auf Schlag. Milliarden werden zurückgestellt, am 23. September fegt der Skandal Vorstandschef Martin Winterkorn aus dem Amt. Der Ausnahmezustand wirkt bis heute, zum Jahrestag, nach. Die bisherige Bilanz ist katastrophal. Der einst so stolze Autobauer ist in den Grundfesten erschüttert, wichtige Zulieferer bangen, der Diesel scheint zumindest außerhalb Europas keine Zukunft zu haben.

Rückrufe von Millionen Wagen bei VW, Audi, Skoda und Seat mit älteren Antrieben laufen nur schleppend an. Die Summe von minus 1,6 Milliarden Euro steht 2015 für den größten Verlust in der VW-Geschichte. Zweistellige Milliardensummen dürfte die Krise am Ende kosten, Genaues ist unklar.

Dieses Geld fehlt an Schlüsselstellen, etwa für Elektromobilität und Digitalisierung, wo neue Rivalen wie Google oder Apple lauern. Und der Konzern? Sucht nach sich selbst. Die US-Kläger kreiden ihm „eines der unverschämtesten Unternehmensverbrechen der Geschichte“ an.

„Na klar sind die Leute traurig, die haben echt die Nase voll“, fasst Betriebsratschef Bernd Osterloh die Gemütslage der Belegschaft zusammen. Seit einem Jahr nur negative Schlagzeilen – das zermürbt. Die Schuldfrage ist auch zum ersten Jahrestag noch ungeklärt.

Winterkorn sprach vor seinem Rücktritt von „Fehlern einiger weniger“. Doch unabhängig davon, ob es nun ein Dutzend, Dutzende oder noch mehr Täter und Mitwisser gab: Der gesamte Konzern steht am Pranger. Allen voran die Pkw-Kernmarke, die den Skandalmotor EA 189 entwickelte. Und Autos mit dem VW-Emblem können die Krise am wenigsten gebrauchen. Sie waren schon vor „Dieselgate“ gewinnschwach, mussten Sparprogramme fahren. Inzwischen ist ein Streichplan für Tausende Jobs bekannt.

Offiziell spricht VW von „Abgasthematik“. Doch das nüchterne Wort greift zu kurz. Anders als bei manchem deutschen Korruptionsskandal ist die Lage anders. Nach bisherigem Stand reichte die kriminelle Energie „einiger weniger“ aus, um mit Software einen Weltkonzern aus den Angeln zu heben. Der illegale Software-Code entzog sich gängigen Kontrollmechanismen, die etwa an Budgets oder dem Einkauf ansetzen.

Zwölf Monate nach dem Beben zeigen sich aber auch Hoffnungsschimmer. „Ohne ,Dieselgate' wäre der Konzern mit seinen alten Herren und autokratischen Prinzipien in der neuen Mobilitätswelt zugrunde gegangen. Es ist gut, dass er eine Zeitenwende einleitet“, lobt Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer.

Vom Superlativ der Täuschung zum Superlativ des Aufbruchs: Müller sieht den „größten Veränderungsprozess“ in der VW-Geschichte. Aber reichen neue Ziele, Produkte, Geschäftswege? Muss sich angesichts der Dimension der Affäre nicht Grundsätzlicheres ändern? Arbeitnehmerboss Osterloh findet dazu bei einer Rede im niedersächsischen Landtag nachdenkliche Worte. Es gehe darum, die „moralischen Fundamente“ neu zu befestigen.

„Es gibt kein Genug mehr. Und es reicht nicht mehr, im Wettbewerb um die besten Produkte auf den Absatzmärkten zu reüssieren“, so Ulrich Thielemann, Chef der Berliner Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Er hält das Bonussystem bei VW für die eigentliche Wurzel des Skandals.

In Braunschweig liegen bereits milliardenschwere Klagen

Denn nicht nur Vorstände, auch Spezialisten können Boni als großen Teil des Einkommens kassieren. „Damit werden den unternehmensinternen Entscheidungsträgern die Bedenken, die sie gegenüber dieser oder jener Praxis hegen könnten, gleichsam abgekauft“, warnt Thielemann.

Im Bundestag arbeitet nun ein Untersuchungsausschuss zur Affäre. Auf EU-Ebene gibt es ein solches Gremium schon länger. In Braunschweig ermitteln Staatsanwälte gegen 30 Beschuldigte, am dortigen Landgericht liegen milliardenschwere Schadensersatzklagen. Ein Vergleich könnte VW in den USA bis zu 14,7 Milliarden Dollar (13 Milliarden Euro) kosten. Ein Ex-Ingenieur will auspacken.

Längst trifft die Krise zudem den Normalbürger an den VW-Standorten, wo die Gewerbesteuern einbrechen. Vieles wird teurer – Kindergärten, Schwimmbäder, Kultureinrichtungen, die Grabpflege. Und nicht nur in den USA glauben viele Kunden nicht mehr an das Image des „sauberen Diesels“.