Demografie: Anpacken, damit das Dorf lebt

Interview Foto: Fotolia365 - Fot

Ein lebenswerter Heimatort ohne freiwilliges Engagement? Kaum vorstellbar. Doch was wird aus Vereinen und Initiativen, wenn die Bevölkerungszahl schrumpft? Einige Orte werden es schaffen, attraktiv zu bleiben, andere nicht, sagt Prof. Steffen Kröhnert. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich an der Hochschule Koblenz unter anderem mit demografischem Wandel und freiwilligem Engagement. Das Positive: Ein Stück weit haben es die Bürger selbst in der Hand, wie sich ihr Ort entwickelt, sagt er im Interview mit unserer Zeitung.

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Versetzen wir uns ins Jahr 2035. Wie sieht das gemeinschaftliche Leben im Dorf aus? Gibt es noch einen Sportverein, einen Chor, einen Geschichtsverein?

Was man schon sehen kann, ist, dass sich der ländliche Raum auseinanderentwickelt. Das typische Dorf in 20 Jahren gibt es nicht. Es wird Dörfer geben, die zu reinen Wohnstandorten werden. Dort wohnen zwar noch einige Ältere, aber soziales Leben findet nicht mehr statt. Und es wird Orte geben, die gemeinschaftliches Leben und damit eine gewisse Attraktivität erhalten können. Da spielen auch die Bürger eine Rolle, in welche Richtung sich ein Dorf entwickelt. Wo es heute schon stärkeres freiwilliges Engagement gibt, sind die Chancen besser, Einwohner zu halten und in 20 Jahren noch gut dazustehen.

Die Bürger haben es also selbst in der Hand?

Ja, ein Stück weit schon. Wenn sich selbst in einem kleinen Ort mit 100 Einwohnern um einen harten Kern eine Dorfgemeinschaft bildet, die dann ins Dorfgemeinschaftshaus mobile Dienstleister einlädt, Kulturveranstaltungen und andere Veranstaltungen initiiert, dann bleibt dieser Ort attraktiver als andere, in denen es das nicht gibt. Ich habe mit einem Vereinsvorsitzenden in einem solchen Dorf gesprochen, der sagte: Die Leute müssen miteinander leben wollen. Wo es dieses Zusammenleben nicht gibt, da will niemand mehr hin.

Viele pendeln schon heute für die Arbeit in die Stadt. Kann man sich vorstellen, dass sie 2035 auch vermehrt weit fahren, um sich im Verein zu engagieren?

Ich sehe beim Vereinsleben keine große Pendlerbewegung, weil es da ja auch um soziale Kontakte im näheren Umfeld geht. Allerdings gibt es einen Strukturwandel im freiwilligen Engagement, sowohl bei der Motivation als auch bei den Interessen. Man spricht heute von drei Gruppen von Engagierten: Da sind die Gemeinwohlorientierten, also eher das Traditionelle, was zum Beispiel in Kirchen geleistet wird. Dann gibt es die Geselligkeitsorientierten, also die Mitglieder in Skatvereinen. Und dann gibt es noch die Interessengeleiteten. Was wir beobachten, ist, dass das geselligkeitsorientierte Engagement an Bedeutung verliert. Das gemeinwohlorientierte, aber vor allem das interessengeleitete Engagement nimmt aber zu. Wenn das geselligkeitsorientierte Engagement wegbricht, dann macht das den Dörfern zu schaffen, weil es eben meist im Ort selbst passiert. Die Interessengeleiteten sind schon eher bereit, auch mal eine weitere Fahrt in Kauf zu nehmen. Zum Beispiel wenn ich mich in einem ganz bestimmten Geschichtsverein organisieren will, weil mich das Thema interessiert.

Das bedeutet, dass die Lebenserwartung der Vereinstypen auch unterschiedlich ist?

Ja, durchaus. Ein zweiter Aspekt des Strukturwandels im freiwilligen Engagement ist nämlich die Frage, wie es organisatorisch gestaltet wird. Es gibt ganz klar den Trend, dass die klassischen Vereinsstrukturen mit Ehrenämtern, die vielleicht unbefristet ausgeübt werden, nicht mehr so attraktiv sind. Das hat auch viel mit der höheren Mobilität und dem durchorganisierteren Alltag der Menschen zu tun. Das führt zu einem Trend zu neueren Formen, in denen das Engagement zeitlich und inhaltlich flexibler ist. Ein gutes Beispiel sind sogenannte Mentoring-Projekte, bei denen sich ein Engagierter mit einem oder mehreren jungen Migranten zusammentut, um gemeinsam die Freizeit zu verbringen, aber auch, um ihnen im Alltag zu helfen. So etwas hat deutlich an Attraktivität gewonnen, denn es ist eine sehr persönliche Form, bei der man individuell abstimmen kann, was man tut und wann man es tut. Inwiefern eine Form von Engagement weiterlebt oder verschwindet, wird auch davon abhängen, wie es die jeweilige Organisation schafft, sich auf die neuen Bedürfnisse der Engagierten einzustellen.

Wenn Sie einen Verein beraten müssten, um ihn fit zu machen für 2035: Was würden Sie raten?

Man muss immer wieder prüfen: Was können Engagierte, und was wollen Engagierte? Und wie verträgt sich das mit den Zielen der Organisation? Man sollte sie nicht auf eine Position setzen, auf der gerade jemand gebraucht wird, und nicht vergessen nachzufragen, ob derjenige dort zufrieden ist. Denn es ist hinderlich, wenn Menschen überfordert sind, aber auch, wenn sie unterfordert sind. Gleichzeitig ist es schlecht, wenn Leute Positionen blockieren, die dort unzufrieden sind, für die es aber andere, sehr motivierte Leute gäbe. Das kann im klassischen Verein ein Problem sein, wenn junge Leute sich engagieren wollen, aber merken, dass man nichts bewirken kann, weil wichtige Schlüsselstellen für die nächsten 20 Jahre von Älteren blockiert sind.

Das heißt: Mehr Kommunikation?

Genau. Und was noch eine Rolle spielt, ist die Anerkennung. Die meisten Menschen engagieren sich nicht nur, um Gutes zu tun. Der wichtigste Grund ist immer, dass es Spaß machen soll und man mit Gleichgesinnten zusammenkommen möchte. Das bedeutet, dass sie das Bedürfnis haben mitzubestimmen und das Gefühl haben wollen, einbezogen zu werden und wichtig zu sein. Das kann zum Beispiel beim Engagement in gemeinnützigen Einrichtungen bedeuten, dass die Leute auch Zugang zu Räumen bekommen und das Gefühl haben, auf Augenhöhe mit festen Mitarbeitern zu arbeiten und so täglich Anerkennung erfahren – nicht nur, wenn der Bürgermeister einmal im Jahr vorbeikommt und Blumen überreicht.

Wie kann der Staat helfen, ehrenamtliches Engagement zu fördern?

Zunächst müssen die Vereine selbst lernen, mit den neuen Bedürfnissen der Freiwilligen umzugehen. Da höre ich immer wieder, dass es Defizite gibt bei Anerkennung und Flexibilität. Das zweite wäre die Ebene der Wohlfahrtsorganisationen, die ja viele Ehrenamtliche beschäftigen. Da gibt es auch immer wieder Hinweise, dass das Einbeziehen und das Kommunizieren auf Augenhöhe verbesserungswürdig ist. Der Staat hat die Aufgabe, eine Engagement-Infrastruktur vorzuhalten. Jeder Ehrenamtliche, jeder Verein braucht Räumlichkeiten. Die kann man nicht nur mit Spenden und Sponsoren finanzieren. Eine weitere Idee ist, so etwas wie eine Stiftung für den ländlichen Raum zu gründen. Eine Institution, die nicht nur bei der Finanzierung von Ideen hilft, sondern zugleich gute Ideen sammelt und bei der Umsetzung berät und hilft. Wie hat der eine Ort eine Lösung für ein Problem gefunden, die vielleicht auf den anderen Ort übertragbar ist? Im Moment muss das Rad überall neu erfunden werden, und kleinere Initiativen können die Bürokratie von Fördermittelanträgen nicht bewältigen.

Blicken wir noch einmal ins Jahr 2035: Wie positiv sind Sie gestimmt, wenn Sie sich das Engagement im Land vorstellen?

Ich bin zumindest nicht negativ gestimmt. Das Engagement ist insgesamt zwar etwa gleich geblieben in den vergangenen Jahren, rund ein Drittel engagiert sich. Bei den Jüngeren ist das Engagement etwas zurückgegangen, auch durch ihre größere Mobilität und natürlich, weil es schlicht weniger Junge gibt, gerade im ländlichen Raum. Aber es gibt einen deutlichen Anstieg des Engagements bei den jüngeren Älteren, also bei den 60- bis 75-Jährigen. Das ist eine Gruppe, die auch zahlenmäßig deutlich wachsen wird. Insofern bin ich durchaus zuversichtlich. Aber es wird eben Unterschiede zwischen den Orten geben. Einige werden es schaffen, attraktiv zu bleiben, andere nicht.

Das Gespräch führte Johannes Bebermeier