Islamabad/Lahore

Das Aschenputtel von Lahore

Geschunden und misshandelt: Nazia am Tag ihrer Rettung aus dem Haus, in dem sie als Dienstmädchen gefoltert worden war.  Foto: dpa
Geschunden und misshandelt: Nazia am Tag ihrer Rettung aus dem Haus, in dem sie als Dienstmädchen gefoltert worden war. Foto: dpa

Das pakistanische Aschenputtel heißt Nazia. Es ist 14 und sehr schmal unter den Stoffbahnen von Hose, Hemd und Kopftuch. Wer Nazia umarmt, spürt über dem rechten Ellenbogen spitze Knubbel, wo Knochen schief geheilt sind. Acht Monate lang war sie einer Frau und deren Töchtern ausgeliefert, die sie schlugen mit allem, was sie fanden. Mit Rohren, Schuhen, Besen, auf Arme, Kopf und Rücken. Nazia hat für die Frauen geputzt, gekocht, gebügelt, oft bis in die Nacht. Geschlafen hat sie auf dem Boden im Esszimmer.

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Von Christine-Felice Röhrs

„Als wir sie aus diesem Haus herausgeholt haben, war sie Haut und Knochen. Ihre Arme waren mehrmals gebrochen gewesen und schief wieder zusammengeheilt“, sagt Tania Malik. Die junge, energische, gut organisierte Frau ist die Programmdirektorin des staatlichen Kinderschutzbüros von Punjab, Pakistans größter Provinz mit mehr als 100 Millionen Menschen. Der Backsteinkomplex in der Provinzhauptstadt Lahore ist das Zentrum der zarten Anfänge des Kinderschutzes in Pakistan. Die Kinderarbeit in Ziegelbrennereien ist in Punjab mittlerweile verboten. Eltern, die ihre Kinder in die Schule statt in die Ziegelbrennerei schicken, können Geld- und Sachleistungen erhalten.

Für Nazia war die Notrufhotline 1121 die Rettung: Ein Elektriker, der in einer Nachbarwohnung arbeitete, hörte sie weinen und rief an. Kinderdienstboten wie sie sind in Pakistan an der Tagesordnung. Genaue Zahlen gibt es nicht – die letzte Kinderarbeitsstudie ist 20 Jahre alt. Erst jetzt wird eine neue vorbereitet, die auch zu Kinderdienstboten bald neue Zahlen liefern soll, heißt es bei Unicef Pakistan. Hunderttausende gibt es, schätzen Experten.

Sicher ist: Ihre Zahl wächst. Das liegt vor allem daran, dass die Mittelklasse des Landes, die die meisten Kinder einstellt, größer wird. Dienstboten sind ein Statussymbol. Es ist nicht ungewöhnlich für Familien, Koch, Gärtner, Türöffner und Putzfrau zu haben. Aber Hausfrauen stellen im islamisch-konservativen Land junge Mädchen lieber ein als männliche, erwachsene Dienstboten. Und Kinder tun die Arbeit billiger. Der Mindestlohn liegt bei monatlich 14 000 Rupien, 125 Euro. Kinder arbeiten für um die 4000 Rupien, 35 Euro.

Kinderjobs sind bei vielen Eltern begehrt

Es ist aber nicht nur ein wachsendes, sondern auch ein schwer auszurottendes Phänomen. „Denn viele Eltern und auch Kinder finden diese Jobs sehr begehrenswert“, sagt Fatma Nasir von der ältesten Kinderschutz-Organisation des Landes, SPARC. Kinderdienstboten werden unter den Ärmsten rekrutiert. Mindestens 60 Millionen Menschen leben in Pakistan unter der Armutsgrenze. „Arbeit im Mittelklassehaushalt – das fühlt sich wie ein Aufstieg an“, sagt Nasir. „Die Kinder bekommen zu essen, und sie lernen etwas, das ihnen ein Auskommen garantiert.“ Die Arbeitgeber wiederum argumentieren, dass sie dem Kind ja immerhin ein besseres Leben bieten als es das zu Hause hätte. Aber das ist eben nicht immer der Fall. Das Institut für soziale Gerechtigkeit, eine Nichtregierungsorganisation, hat allein zwischen Januar 2010 und Dezember 2013 insgesamt 52 Fälle von Folter gezählt – 24 Kinder starben. Es sind nur die Fälle, auf die Medien aufmerksam wurden. Die meisten, sagt Malik, werden nie bekannt, weil sie hinter verschlossenen Türen stattfinden. Malik kann eine ganze Reihe von Schützlingen aufzählen, die gerade so überlebt haben: Rubab, 12, mit einem Metallrohr auf den Kopf geschlagen, bis die Augen zuschwollen. Umer, 9, mit Hammer und Telefon verprügelt. Und immer so weiter mit Ramiza, Shazia, Rani …

Woher kommt die Gewalt?

Woher die Gewalt kommt? Niemand hat so recht eine Antwort. Kinderschützerin Nasir von SPARC sagt, das „tiefe Misstrauen gegenüber der Unterklasse“ spiele eine Rolle. „Nach dem Motto: Die sind sowieso alle unehrlich, undankbar und potenziell gefährlich.“ Aber vielleicht läuft es auch einfach darauf hinaus, dass es in manchen Menschen das Schlechteste zutage fördert, wenn ihnen ein schwächeres Wesen anvertraut wird.