Claudia Roth und Wolfgang Kubicki: Worüber die Politiker besonders gut streiten können

Ein Interview mit sehr konträren Persönlichkeiten. Claudia Roth und Wolfang Kubicki.
Ein Interview mit sehr konträren Persönlichkeiten. Claudia Roth und Wolfang Kubicki. Foto: dpa

Claudia Roth und Wolfgang Kubicki sind wahrlich nicht immer einer Meinung. In einem aber sind sich die beiden Bundestagsvizepräsidenten einig: Der Ton im Parlament hat sich verschärft. Die Ursache allerdings bewerten die Grüne und der Liberale höchst unterschiedlich. Ein Streitgespräch – auch, aber nicht nur über die Rolle der AfD:

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Frau Roth, Herr Kubicki, sind Sie als Sitzungsleiter im Bundestag manchmal Raubtierdompteure?

Roth: Ich bin Sitzungsleiterin, und das ist offenbar Anlass genug, dass die Raubtiere wilder werden. Es gibt dabei übrigens einen großen Unterschied im Umgang der AfD mit Frauen und Männern. Verbale Ausfälle, Häme, immer stärkerer Sexismus, den es im Bundestag gegen alle Frauen gibt: All das trifft eine Sitzungsleiterin stärker. Im Vergleich zu der vorherigen Sitzungsperiode haben sich die Umgangsformen im Bundestag allerdings auch insgesamt radikal verändert. Wir erleben eine Entgrenzung von Sprache, einen Angriff auf demokratische Institutionen und den Versuch der Umdeutung von Geschichte.

Kubicki: Mein Verhältnis zur AfD ist ambivalent. Ich bin derjenige, der am häufigsten von deren Abgeordneten gerügt wird. Andererseits lieben sie auch die autoritäre Hand. Manchmal kommen sie nach einer Auseinandersetzung im Parlament zu mir und sagen: Herr Kubicki, Sie hatten recht. Ich sehe einen Verfall der Umgangsformen, aber nicht nur bei AfD-Abgeordneten. Es gibt wechselseitige Beleidigungen. Wenn der frühere SPD-Chef Martin Schulz den AfD-Fraktionschef Gauland auf den Misthaufen der Geschichte wünscht, dann entspricht das etwa dem gleichen Niveau wie wenn Gauland der früheren SPD-Integrationsbeauftragten Aydan Özoguz sagt, er wolle sie in Anatolien entsorgen. Ich stelle wie Claudia Roth fest, dass es inzwischen Verhaltensweisen gibt, die mit normalen Umgangsformen im Parlament nichts mehr zu tun haben. Ein Drittel der AfD-Fraktion, das überwiegend in den hinteren Reihen sitzt und vorwiegend aus ostdeutschen Bundesländern kommt, ist nicht nur verbal aggressiv. Einmal stand es im Bundestag sogar kurz vor einer kleinen Keilerei, weil deren Zwischenrufe unerträglich waren.

Spitzen sich Auseinandersetzungen mit der AfD im Bundestag zu?

Kubicki: Ja. Die AfD radikalisiert sich im Bundestag. Das hat aber auch damit zu tun, dass sie wie Paria behandelt werden. Bei mir hat sich auch schon eine Reihe von AfD-Abgeordneten beklagt, dass andere Abgeordnete sich weigern, ihnen die Hand zu geben, sie nicht grüßen. Sie haben den Eindruck, sie werden ausgegrenzt.

Claudia Roth schüttelt den Kopf

Kubicki: Doch. Je mehr Menschen ausgegrenzt werden, desto eher bilden sie ihre eigene Welt. Es kommen auch AfD-Abgeordnete in mein Büro und wollen wissen, wie ich die Dinge wahrnehme, weil ihre Wirklichkeit in ihrer sozialen Blase und ihrer Fraktion eine völlig andere ist. Sie leben in dem Wahn, dass sie Deutschland retten, den Volkswillen vollziehen und alle komplett gegen sie sind – die Presse, die Systemparteien. Wir müssen aufpassen, dass sich dieser Prozess nicht weiter verselbstständigt.

Dass die AfD keinen Bundestagsvizepräsidenten stellen kann, wird die Abgeordneten in ihrer Wahrnehmung bestätigen.

Kubicki: Mir fällt nichts ein, was ich gegen die Kandidatin der AfD sagen sollte. Zugleich habe ich ein großes Verständnis dafür, dass das Parlament nicht von Kräften repräsentiert werden will, die wir zum Teil für undemokratisch halten und deren Außenwirkung wir nicht durch einen Platz im Bundestagspräsidium verstärken wollen. Die demokratische Spielregel heißt nicht, dass jede Fraktion in jedem Fall ein Recht hat, einen Vizepräsidenten zu stellen. Er muss auch gewählt werden.

Roth: Was du beschreibst, ist doch auch Teil des Opfermythos, den die AfD pflegt. Selbst stellen sie die Pressefreiheit massiv infrage, greifen mich, greifen uns auf unanständige Weise an. Sobald aber das kleinste bisschen Gegenwind kommt, wollen sie Opfer sein dürfen. Übrigens: In den Kommissionen, in denen ich arbeite, gebe ich den Kollegen natürlich die Hand. Ich habe in diesem Jahr aber gelernt, dass die Meinungsfreiheit auch Grenzen hat.

Wo sehen Sie Grenzen?

Roth: Wenn die Meinungsfreiheit missbraucht wird zur Verhetzung von sozialen Gruppen und zur Ausgrenzung von Minderheiten, zur Demütigung von Frauen und von Muslimen zum Beispiel.

Kubicki: Dann greifen wir doch ein.

Roth: Eben, das will ich betonen. Wenn Menschen verhetzt werden, nur weil sie Muslime sind, dann verstehe ich meine Funktion so, dass ich mich vor diese Menschen stelle. Menschen haben wieder Angst in unserem Land. Menschen auch im Bundestag haben wieder Angst. Menschen haben Angst, weil sie Juden und Jüdinnen sind, weil sie Muslime und Muslima sind, weil sie schwul, lesbisch, transgender sind, weil sie obdachlos sind, weil sie Sinti und Roma sind.

Kubicki: Wir haben auch Menschen, die Angst haben, weil sie bei der AfD oder Wähler der AfD sind.

Roth: Der Vergleich hinkt jetzt aber sehr.

Kubicki: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht so einseitig werden. Es gibt eine Menge Leute, die sagen, wenn ich meine AfD-Meinung äußere, dann werde ich gesellschaftlich geächtet, dann verliere ich möglicherweise meinen Beruf. Wir müssen darauf achten, dass wir die Fundamente unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung nicht infrage stellen, indem wir sagen: Im Kampf gegen rechts ist alles erlaubt. Das ist es eben nicht.

Roth: Das behauptet auch niemand. Wir brauchen aber mehr Sensibilität. Der Bundestag ist kein Bierzelt, und Hass ist keine Meinung. Wenn sich ein Abgeordneter zur Regierungsbank, zum Platz der Kanzlerin, wendet und rausbrüllt: Wer keine Eier hat, darf nicht regieren – dann sehe ich vom Präsidium aus das Entsetzen der weiblichen und auch vieler männlicher Abgeordneter. Ich war in dem Fall dankbar, dass der nachfolgende Redner der SPD erklärt hat, dass er nicht gewählt wurde, um sich derartigen Sexismus im Bundestag anzuhören.

Kubicki: Mir geht diese Sexismusdebatte langsam auf den Senkel.

Roth: Mag sein, du bist ja auch nicht betroffen.

Kubicki: Ein Beispiel: Ich erkläre, dass Frau Kramp-Karrenbauer eine brillante Rede auf dem Parteitag gehalten hat, die ich ihr so nicht zugetraut hätte, und kriege lauter Sexismusvorwürfe. Soll man jetzt gegenüber Frauen vorsichtiger sein, nur weil sie Frauen sind? Dann wäre doch intendiert, dass es zu behütende Wesen sind, mit denen man vorsichtig sein muss. Das ist absurd.

Sie haben eher die Weißer-alter-Mann-Vorwürfe bekommen, dass Sie zu herablassend agiert haben. Waren Sie herablassend?

Kubicki: Es war als Kompliment gemeint. Frau Kramp-Karrenbauer hat das auch so verstanden.

Roth: Umso besser. Ich habe aber jetzt mal eine Frage an den Juristen. Die Staatsanwaltschaften stellen sehr oft Verfahren wegen Aufrufen zur Gewalt oder Mord mit dem Hinweis ein, diese seien nur im Konjunktiv formuliert. Vor einem Jahr hat ein Berliner Richter einen Mann, der meinte, ich „müsste“ auf vier verschiedene Arten umgebracht werden, zu rund 4930 Euro Strafe verurteilt, obwohl auch dessen Aussagen im Konjunktiv formuliert waren – da sie von Dritten als Aufruf zur Gewalt verstanden werden könnten. Warum wird das denn so unterschiedlich beurteilt?

Kubicki: Die Sache mit dem Konjunktiv spielt keine Rolle. Es kommt auf den Inhalt der Erklärung an. Manche Staatsanwaltschaften scheuen den Aufwand, der mit den Verfahren verbunden ist. Für einen Staatsanwalt, der erheblich unter Belastung steht, ist eine verbale Entgleisung im Netz nicht immer eine Angelegenheit, die er als Tötungsaufruf ernst nimmt.

Wenn wir den Tonfall in unserer Gesellschaft entschärfen wollen, dann müsste man solche Drohungen aber systematisch ahnden ...

Kubicki: Ja. Man muss bei den Justizbehörden den Freiraum schaffen, dass sich einige Staatsanwälte ein halbes Jahr um nichts anderes kümmern, als gegen Morddrohungen und andere Aufrufe zur Gewalt in sozialen Netzwerken vorzugehen. Die Wirkung von Verurteilungen, über die auch berichtet wird, ist enorm. Wenn es sich verbreitet, dass man für eine Morddrohung 5000 bis 10.000 Euro Strafzahlungen oder ein halbes Jahr Haft bekommt, dann wird das sicher Wirkung erzielen.

Roth: Nach dem Urteil war es für mich jedenfalls ein paar Wochen ruhiger. Wichtig ist aber insgesamt, dass die Politikerinnen und Politiker, die am demokratischen Konsens festhalten, respektvoll miteinander umgehen, auch bei strittigen Auseinandersetzungen.

Kubicki: Wie wir beide. Wir können sehr intensiv in der Sache streiten. Wir können auch frotzelnd miteinander umgehen. Sie kann auch manchmal richtig böse sein.

Sie nicht, Herr Kubicki?

Kubicki: Selten. Ich kann manchmal zynisch sein.

Wie gut ist denn sonst die Atmo- sphäre zwischen FDP und Grünen – werden die nächsten Jamaika- Verhandlungen erfolgreich sein?

Roth: Wir reden miteinander und kooperieren, wo es sich anbietet. Es ist gut, dass wir zusammen über eine Reihe von Grundgesetzänderungen verhandelt haben. Ich finde auch gut, dass die FDP bei der Abschaffung von Paragraf 219a mit einsteigt. Wir haben im Moment aber andere Sorgen, als immer nur über neue Machtkonstellationen, über Farben und Personen zu debattieren. Die Leute haben das satt. Ich wünsche mir vielmehr, dass die amtierende Regierung mal anfängt zu regieren.

Gibt es die Möglichkeit, dass es ohne Neuwahlen zu einer Jamaika-Regierung aus Union, FDP und Grünen kommen könnte?

Kubicki: Theoretisch kann es Jamaika ohne Neuwahlen geben. Praktisch halte ich das für ausgeschlossen. Ich kann mir kein Szenario vorstellen, nach dem Union, FDP und Grüne in neue Regierungsgespräche eintreten, ohne dass es Neuwahlen gibt.

Roth: Grüne und Liberale sitzen ja nicht auf der Auswechselbank. Im vergangenen Jahr hat sich viel verändert, große Herausforderungen wie die Klimakrise wurden links liegen gelassen. Da kann man nicht einfach so an den Herbst 2017 anknüpfen.

Sind die Grünen dafür mittlerweile zu stark geworden?

Kubicki: Die Stärke der Grünen momentan hat vergleichsweise wenig mit den Grünen zu tun, vielmehr mit der schlechten Performance der Sozialdemokraten.

Roth: Das stimmt so nicht. Das behauptest du jetzt einfach.

Kubicki: Darf ich meine Meinung sagen?

Roth: Immer. Aber es ist Blödsinn zu behaupten, dass beispielsweise das Wahlergebnis der Grünen in Bayern so gut war, nur weil die anderen so schlecht dastehen. Es hat vor allem damit zu tun, dass wir ein Angebot gemacht haben. Dass beispielsweise auch sehr konservativ geprägte Menschen gesagt haben, dass sie keine neuen Grenzkontrollen in Bayern wollen und auch kein neues Polizeiaufgabengesetz.

Kubicki: Die Grünen haben bei der Bundestagswahl mit 8,9 Prozent das schlechteste Ergebnis aller Parteien bekommen. Innerhalb eines Jahres seid ihr auf 20 Prozent gestiegen. Das kann genauso schnell wieder vorbei sein.

Roth: Natürlich. Das habt ihr ja auch erlebt. Ihr hattet mal 18 Prozent auf den Schuhsohlen, seid rausgeflogen, und nun seid ihr wieder da – übrigens mit sehr wenigen Frauen in der Fraktion, leider. Mit dem Thema werde ich dir weiter auf den Wecker gehen. Denn, ja: Der erfolgreichste Beschluss, den die Grünen je gefasst haben, ist die Frauenquote.

Kubicki: Ich akzeptiere, dass die Grünen ein entsprechendes politisches Angebot machen, für das sich die Leute entscheiden können. Aber warum willst du das denn verallgemeinern?

Roth: Weil es ein demokratisches Problem ist, wenn im Bundestag nur 29 Prozent Frauen entscheiden, während sie eigentlich 51 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Die weibliche Perspektive in der Politik ist kein Beiwerk, sondern ein Qualitätssprung. Inzwischen zeigt sich auch, dass deutlich mehr Frauen als Männer uns Grüne wählen. Nicht zuletzt, weil bei uns Frauen sichtbar und wahrnehmbar sind. Die Quote ist ein Mittel zum Zweck, durch das Frauen in vornehmlich männlichen Machtstrukturen oft erst in die Lage versetzt werden, ihre Fähigkeiten zu zeigen.

Kubicki: Bei der Quote geht es nicht um die Frage der Kompetenz, sondern um die Frage des Geschlechts. Zumal ihr ja wollt, dass das Geschlecht eine immer geringere Rolle spielt. Zunehmend wird nicht mehr gefragt, wie sind die äußeren Merkmale eines Menschen, sondern: Wie fühlt sich jemand? Wenn ich jetzt sage: Ich fühle mich als Frau. Ich möchte an der Quote teilnehmen.

Roth: Das ist aber jetzt echt der Oldiesound. Du unterstellst, dass ich seit Jahren in Bayern auf Listenplatz eins bin, nur weil ich Frau bin.

Kubicki: Ich unterstelle gar nichts. Du bist auf Platz eins, weil du gut bist, weil du Claudia Roth bist.

Das Gespräch führten Gregor Mayntz und Eva Quadbeck

Wolfgang Kubicki und Claudia Roth

Claudia Roth (63) war lange Herz und Seele der Grünen. Mehr als elf Jahre (2001/02 und von 2004 bis 2013) stand sie an der Spitze der Partei. Sie war Außenpolitikerin, Menschenrechtsexpertin, engagierte sich für Kulturpolitik, Minderheiten und Demokratiefragen – und polarisiert wie kaum eine andere. Seit 2013 ist sie Vizepräsidentin des Bundestages.

Wolfgang Kubicki (66) gilt als Enfant terrible der Liberalen. Der Volkswirt und Rechtsanwalt war von 1990 bis 1992 im Bundestag und hat dort seit 2017 wieder ein Mandat. Dazwischen saß er als Abgeordneter im Kieler Landtag. Kubicki ist einer der Architekten des Kieler Jamaika-Bündnisses. Im Bund gelang ihm dieses Kunststück nicht.

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