Brexit: Das Herz schlägt britisch, der Verstand denkt an Europa

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London flaggt britisch. Am Tag vor dem großen EU-Referendum sind die Zeichen in der Hauptstadt ganz auf Tradition gestellt. Zumindest macht dies auf den glamourösen Einkaufsmeilen rund um die Oxford Street den Eindruck. Volker Boch, Chefreporter unserer Zeitung, berichtet direkt aus London über die britischen Schicksalstage. Sein Eindruck: Die Briten sind tief gespalten.

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Auf den Besucher wirkt es so, als sei dies der sanfte Hinweis der Obrigkeit an die Bevölkerung, dass sie doch bitteschön für den Austritt aus der Europäischen Union stimmen soll. Doch das ist natürlich Quatsch, erklärt der Künstler Michael Clark, der mit seinem Kumpel über die New Bond Street flaniert. Die Flaggen würden doch immer noch wegen der Feierlichkeiten zum 90. Geburtstag der Queen hängen. Ein Schelm, wer dabei dennoch an Politisches denkt.

Auf dem offiziellen Parkett ist es hoch hergegangen in der jüngsten Vergangenheit. Premier David Cameron und Londons schillernder Ex-Bürgermeister Boris Johnson hatten als prominente Köpfe der gegensätzlichen Kampagnen bis zuletzt für den Verbleib in der EU beziehungsweise für den britischen Ausstieg geworben. Mitunter haben sich die beiden Lager derart heftig bearbeitet, dass eine entscheidende Frage sein könnte, wie sie hinterher eigentlich miteinander arbeiten wollen. Aber das wird die Zeit nach dem Referendum zeigen müssen.

London zeigt sich am Tag vor der schicksalhaften Abstimmung jedenfalls sehr britisch. Leicht fieselnder Regen begrüßt die Einheimischen am frühen Morgen. Wie ein sanfter Teppich legt sich feuchte Schwüle über die Stadt. Darunter brodelt es in der Metropole, nicht nur weil für den Abend heftige Gewitter angekündigt sind. Die Meinungen könnten gespaltener nicht sein. Der Tag vor dem Referendum ist der Tag nach einer letzten großen TV-Debatte mit Johnson und seinem Nachfolger als Londoner Bürgermeister, Sadiq Khan. Die beiden haben sich mit anderen Mitstreitern hart attackiert, und so richtig weiß nun niemand mehr, wohin die Reise geht. Raus aus der EU oder mit ihr weiter? In den Gesprächen mit Londonern ist eine tiefe innere Zerrissenheit spürbar. Das Herz denkt britisch, der Verstand tendiert zu Europa. Experten prognostizieren, dass sich die Briten in zwei etwa gleich starke Lager aufteilen, am Ende dürften gut zehn Prozent Unentschlossene den Ausschlag geben.

Eine der Wackelkandidatinnen ist die junge Musikstudentin Katie Wood. Sie sitzt an der Kasse eines Antiquitäten- und touristischen Gemischtwarenhandels im trendigen Stadtteil Notting Hill. Ihre Chefin hat gemeinsam mit der benachbarten Ladenbesitzerin schon ordentlich draufgehauen auf Europa, auf all die Probleme mit Brüssel & Co. Die labile Struktur der EU sei das eine, haben sie erklärt, das andere seien die akuten Probleme, die sich bis hin zu einer schwächer werdenden medizinischen Versorgungsstruktur in London niederschlagen würden. „Ich glaube nicht, dass die EU noch lange bestehen wird“, sagt die eine. „Ich rechne damit, dass die EU in fünf Jahren kollabiert“, erklärt die andere. Ihren Namen möchten sie nicht nennen in Zeiten sozialer Netzwerke, die alles und jeden verbreiten. Dagegen verweisen sie an die junge Katie, die ihr Studium mit der Arbeit im Laden zu finanziert. „Ich bin noch sehr unentschlossen, aber ich denke, rauszugehen wäre ein großer Fehler.“ Unweit des Ladens schimpft ein Bauarbeiter ganz allgemein auf die Politiker. „Ich gebe gar nichts auf die, alles nur Lügen, ich stimme zu überhaupt nichts mehr ab.“

Genau solche Leute sind es, die der aus Australien stammende John Schetrumpf gewinnen will. An der U-Bahn-Station Notting Hill Gate steht er bereit, um Flyer und Argumente zu verteilen. „Wir brauchen mehr Demokratie“, sagt der Senior. „Es gibt in Brüssel, Luxemburg und Straßburg viele Leute, die mehr verdienen als unser Premier, und keiner weiß wofür“, schimpft er. „Das kostet uns alles einen Haufen Geld, und dafür geben wir unsere Freiheiten auf. Nicht einmal unsere eigenen Fischereirechte haben wir noch, die EU-Kommission überschattet alles.“

Auf der Straße ist in London eher wenig von Aktionisten wie Schetrumpf zu sehen, das Referendum ist vielmehr eine intime Geschichte der Briten. Die Diskussionen spielen sich auf dem heimischen Sofa, im Pub oder im Tea Room ab und nicht so sehr an den einschlägigen Plätzen. In diesen internen Debatten teilt sich London aber wie das ganze Land auf. In der Hauptstadt sind es auf der einen Seite Leute, die eher einer klassischen, konservativen Richtung zugeschlagen werden, die für den Ausstieg stimmen werden. Im reichen Londoner Westen, wo am Morgen die schwarzen Limousinen mitsamt Chauffeur ihre Passanten aus den Stadtteilen Chelsea oder Kensington geleiten, denkt das Gros entsprechend britisch. Dagegen heißt es, dass der Osten der Millionenstadt eher europäisch orientiert sei.

So einfach lassen sich die Lager allerdings nicht trennen, das wird permanent deutlich. Bei einem Gang durch den Hyde Park in den reichen Westteil der Stadt erklärt der Lehrer Andrew Keep, dass er ganz klar für Europa ist. „Ich bin sehr aufgeregt, wie es ausgeht, weil ein Ausstieg ganz viel kaputt machen würde. Ich liebe die EU.“ In der Tube, der Londoner U-Bahn, schließt sich der Geschäftsführer einer Personalentwicklungsfirma an. „Wir brauchen Hirn und Talente in England“, sagt Julien Hofer. „Heute ist England ein Magnet für Leute aus EU-Ländern, die viele Qualitäten mitbringen. Wir müssen alles dafür tun, dass sie weiter zu uns kommen, sonst würde England lausig dastehen.“

Eine Vielzahl dieser begehrten Arbeitskräfte ist in der Londoner City anzutreffen, dem pulsierenden Finanzzentrum der Metropole, Sammelpunkt für Anzüge und edle Kostüme. Es ist allerdings nicht so ganz einfach, die Gefühlslage der Träger feiner Gewänder zu erforschen. Denn die Protagonisten der legendären und schwer durchschaubaren Bankenwelt geben sich zugeknöpft, wie ein Feldversuch zur Mittagspause verdeutlicht. Nach 12 Uhr wimmelt es nur so von Anzugträgern in der Londoner City, dem wichtigsten Finanzplatz der Welt. Jetzt eilen die Mitarbeiter der unzähligen Banken in die umliegenden Bars, Cafés und Snack-Shops. Zu einem echten Lunch, vielleicht gar mit drei Gängen und einem Wein, hat kaum jemand Zeit. Im Moment werden in London auch wegen des EU-Referendums und dem parallel dazu zuletzt steigenden Kurs des Pfunds große Geschäfte getätigt. Entsprechend hektisch geht es in die Pause, ein Mobiltelefon am Ohr, den nächsten wichtigen Geschäftsanruf vor dem inneren Auge. Wie im Bienenstock wimmelt es zur Mittagszeit um die Old Broad Street und Threadneedle Street. Hier hat die Bank of England ihren Platz, die Deutsche Bank ist um die Ecke. Seit dem „Big Bang“ am 27. Oktober 1986, als die Börsenregularien enorm gelockert wurden, herrscht in diesem Bienenstock ein tägliches Leben, das den letzten Sekunden einer Nachspielzeit im EM-Finale beim Stand von 0:0 nicht unähnlich ist.

Die EM scheint am Tag vor dem Referendum aber weit weg. Das EU-Voting beherrscht stattdessen die Schlagzeilen. Vor der Royal Bank of Scotland scheitert der Journalist dennoch erst einmal kläglich, es hagelt Absagen. „Meine Meinung zum EU-Referendum? Kein Kommentar!“ Lennard Fergus ist so nett, den Reporter auf seinem hastigen Weg in die Pause ein paar Meter mitgehen zu lassen. Dann erklärt er: „Ich bin Ire, ich kann ja nichts vorschreiben. Aber ich würde drin bleiben in der EU. Sonst werden es ein paar richtig harte Jahre.“ Kaum ist er enteilt, gibt es die nächsten Kommentar-Körbe von Bankern. Dann erklärt ein Mitarbeiter der schottischen Großbank knapp, dass er bereits für den Verbleib gestimmt hat, weil ein „Brexit“ extrem schaden würde.

Wenn die Banker überhaupt mit dem Journalisten sprechen, dann nur, wenn sie weder fotografiert noch mit Namen genannt werden. Warum das so ist, erklärt ein Angestellter der Deutschen Bank. „Es ist Hauspolitik, dass die Mitarbeiter nichts kommentieren sollen, die Banken wollen sich neutral verhalten.“ Der junge Marketingmanager Jack Clark gibt zumindest einen kleinen Einblick in seine Gefühlslage. Er war bis zuletzt für eine Bank tätig und arbeitet jetzt für ein großes Medienbüro in der City. „Es ist einfach eine schwierige Sache“, sagt er. „beide Seiten haben ihre Gründe, dafür oder dagegen zu sein. Vielleicht wäre der Ausstieg besser, aber dies würde gleichzeitig große Unsicherheiten für die Zukunft bedeuten.“ Er selbst will bei aller inneren Zerrissenheit für den Verbleib in der EU votieren.

Nicht nur dem Alter nach hat Brian Stewarts, der als Klient zu einer der großen Banken unterwegs ist, seinem jungen Landsmann etwas voraus. „Ich habe mich schon entschieden“, erklärt der hagere ältere Mann lächelnd. „Wir sollten in der EU bleiben.“ Und wie geht’s aus? Davon hat Stewarts eine klare Vorstellung. „52:48 für Remain“, sagt er entschieden. „Fragen Sie die Buchmacher, die wissen es immer am besten, und die Quoten sprechen für den Verbleib.“

In der Tat sind die Vorzeichen ziemlich eindeutig, wie der Manager eines lokalen Wettbüros verrät. Seinen Namen dürfe er nicht nennen, bittet er, sonst schmeiße ihn die Geschäftsführung raus. Aber zum Referendum will er doch was sagen. „Es ist vielleicht ein gutes Unterhaltungsthema“, erklärt er, „aber mit Wetten geht da gar nichts, kein gutes Geschäft.“ Bis 22 Uhr können die Briten am Tag der Abstimmung noch auf den Ausgang setzen. Die Quoten sprachen am Mittwochabend klar für den Verbleib in der EU. Wer auf den Ausstieg wettet, kann bei den Buchmachern einiges gewinnen bei einem Kurs von 11:4. Aber wer nur auf die britische Flagge setzt, kann eben auch viel verlieren.