Berlin

„Bitter wie viele keine Chance kriegen“

Der 2. Juni 1997 veränderte Sandy Sollans Leben grundlegend. Ihr gerade einmal 18 Monate alter Sohn Peter kletterte in einem unbeaufsichtigten Moment aus dem eigentlich geschlossenen Fenster der Wohnung – und stürzte aus dem achten Stock in die Tiefe.

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Berlin – Der 2. Juni 1997 veränderte Sandy Sollans Leben grundlegend. Ihr gerade einmal 18 Monate alter Sohn Peter kletterte in einem unbeaufsichtigten Moment aus dem eigentlich geschlossenen Fenster der Wohnung – und stürzte aus dem achten Stock in die Tiefe.

Er kam mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus, doch die Ärzte konnten ihn nicht mehr retten. Zwei Tage später stand fest: Der kleine Peter, der gerade erst angefangen hatte, seine Welt zu entdecken, war hirntot. «Um seinem sinnlosen Tod zumindest etwas Sinn abzugewinnen», entschieden sich Sandy Sollan und ihr Mann, die Organe ihres Sohnes zu spenden.

«Als wir um unser Kind bangten und es uns wahnsinnig schlecht ging, war uns bald klar, dass wir nichts mehr für Peter tun konnten», erinnert sich die heute 36-jährige Sandy Sollan aus Neutrebbin in Brandenburg. «Doch wir wussten, wir konnten vielleicht etwas machen, um anderen zu helfen.» Tatsächlich: Peters Herz rettete einem damals vier Jahre alten Jungen das Leben, seine Leber bekam ein zweijähriges Mädchen und beide Nieren wurden einem weiteren Mädchen transplantiert. Noch immer geht es den Kindern gut, wie Sandy Sollan zuletzt im Oktober ohne weitere Angaben zu den Empfängern erfuhr.

Vor allem jedoch in der ersten Zeit nach dem Tod ihres Sohnes gab der jungen Mutter ihre Entscheidung zumindest etwas Trost. «Es tat und tut gut zu wissen, dass es andere Kinder gibt, die mit Peters Hilfe und Peters Kraft weiterleben», beschreibt sie ihre Gefühle. «Unser eigenes Kind ist zwar nicht mehr da – irgendwie aber doch. Nicht nur in unseren Gedanken, sondern in gewisser Weise auch körperlich.» Ihr Mann formulierte es einmal so: «Wir haben zu unseren eigenen Kindern noch diese Kinder dazubekommen, auch wenn wir sie nicht sehen können.»

So wie Sandy Sollan denken in Deutschland nicht alle Menschen. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) warten derzeit rund 12 000 Menschen auf ein Spenderorgan. Gerade bei den Nieren kommen täglich neue schwer kranke Patienten hinzu. Doch auch Leber, Herz und Lunge werden dringend benötigt. Zwar stieg die Zahl der Organspender im vergangenen Jahr leicht auf 1217. Damit wurden bundesweit jeden Tag durchschnittlich elf Organe transplantiert. Doch das reicht noch lange nicht: Jeden Tag sterben drei Menschen, die dringend ein neues Organ benötigt hätten. Hinzu kommen viele, die nur dank der modernen Medizintechnik am Leben bleiben, beispielsweise mit einer Dialyse oder einer Herz-Lungen-Maschine.

Claudia Kotter aus Berlin dagegen gehört zu denjenigen, denen ein Organ gespendet wurde. Als Kind wurde bei ihr eine seltene Autoimmunerkrankung diagnostiziert, die Sklerodermie. Jahrelang hatte sie damit nicht wirklich Probleme, doch im Frühjahr 2002 verschlechterte sich ihr Zustand so dramatisch, dass klar wurde: Die junge Frau braucht ein Spenderorgan. «Das Gewebe meiner eigenen Lunge vertrocknete gewissermaßen», erklärt die heute 29-Jährige. Sie bekam immer schlechter Luft, hustete stark, konnte kaum noch laufen und musste schließlich auch ein Sauerstoffgerät mit sich herumtragen. «Etwa eineinhalb Jahre vor der Transplantation ging es mir dann so schlecht, dass ich fast durchgängig im Krankenhaus lag und kaum essen konnte, so dass ich künstlich ernährt werden musste.»

Insgesamt fünf Jahre stand Claudia Kotter auf der Warteliste für eine neue Lunge. Mitten in einer Nacht im April 2007 kam dann endlich die Nachricht: Wir haben ein passendes Spenderorgan gefunden. «Ich hatte gleich ein gutes Gefühl, dass das klappen würde», erinnert sich Claudia Kotter. Dennoch ging es ihr nach der Operation erst noch sehr schlecht: Es gab Komplikationen, die junge Frau musste rund eine Woche im künstlichen Koma beatmet werden und dann erst einmal das Atmen neu lernen. Mit der Zeit ging es ihr aber besser und seit einigen Jahren lebt sie wieder ein selbstbestimmtes Leben, hat eine eigene Wohnung und genießt ihre Freiheit.

Operationen wie bei Claudia Kotter kennt der Transplantationsmediziner Professor Axel Haverich bestens. Der Direktor der Herz-Thorax- und Gefäß-Chirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover beschäftigt sich seit 1985 vor allem mit Herz- und Lungentransplantationen und war an mehr als 1000 selbst beteiligt. Rund 150 Mal pro Jahr klingelt bei ihm in der Klinik das Telefon: Wir haben ein passendes Spenderorgan für den Patienten «XY».

Dann muss alles möglichst schnell organisiert werden. Ein Team mit zwei bis drei Ärzten macht sich auf den Weg zum Spender. Mit dem Auto oder einem Spezialflugzeug reisen sie in die Klinik und entnehmen die Lunge oder das Herz – oder beides. Zeitgleich bereiten die Kollegen in Hannover den Empfänger für die Transplantation vor. Schließlich sollten die Organe möglichst innerhalb von drei Stunden im Körper des Empfängers sein. «Wenn die Maschine mit dem Spenderorgan landet, haben die Kollegen meist schon den Brustkorb des Patienten geöffnet und das alte Organ entnommen.»

Obwohl Professor Haverich auf diese Weise schon viele Menschenleben gerettet hat, ist er nicht zufrieden. «Es ist ein tolles Gefühl, einem Menschen, der vorher in einer miserablen Situation war, wieder eine Lebenschance zu geben», sagt er. Die größte Schwierigkeit heute sei jedoch, dass nicht genügend Spenderorgane zur Verfügung stünden – «und wir deswegen leider immer häufiger grenzwertige Organe akzeptieren, einfach weil der Druck auf der Empfängerseite so enorm groß ist».

Im besten Fall bemerkt der Patient davon zwar nichts und das Organ funktioniert einwandfrei. Doch das klappt nicht immer. «Wenn wir seit vielen Wochen fünf Patienten auf der Intensivstation liegen haben, dann versuchen wir möglicherweise auch ein Organ zu transplantieren, dass beispielsweise beim Unfall etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wir machen heute aufgrund des Organmangels sehr viele Kompromisse bei der Qualität der Spenderorgane.»

Das ärgert den Mediziner. «Jeder dritte Patient kommt gar nicht bis in den OP-Saal», berichtet er. «Es ist bitter zu sehen, wie viele Menschen zu Recht auf den Wartelisten stehen und dann keine Chance auf ein neues Organ bekommen, weil es schlichtweg zu wenig Spender gibt.» Er fordert daher, das Transplantationsgesetz von 1997 unter anderem so zu verändern, dass Krankenhäuser verpflichtet werden, einen möglichen Organspender zu melden. Wenn nicht, müssten Sanktionen folgen. «So könnte die Anzahl der gespendeten Organe sicher verdoppelt werden.»

Derzeit würden zahlreiche Ärzte zu wenig potenzielle Spender erkennen und melden, findet Haverich. Das liege zum einen an Unsicherheiten im Umgang mit Organspenden, zum anderen daran, dass eine Transplantation den Klinikalltag durcheinanderbringe. «Sie müssten daher besser aufgeklärt werden.» Wie in Spanien, wo in jeder Klinik speziell ausgebildete Mitarbeiter die Organspender erfassen – und fast dreimal so viele Organe pro Million Einwohner gespendet werden wie bei uns. «Jeder Mensch, der fühlt, der junge Menschen auf der Intensivstation sieht, deren Lebensradius auf die Länge ihres Sauerstoffschlauches begrenzt ist, sagt: Wenn es eine Möglichkeit gibt, diesen Menschen zu helfen, dann müssen wir alles dafür tun.»

Um Leben zu retten, würden einer Umfrage im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland ihre Organe nach dem Tod spenden. Doch nur 17 Prozent haben einen Organspenderausweis ausgefüllt. Das liegt wohl unter anderem auch daran, dass sich viele Menschen nicht trauen, einen Spenderausweis dauerhaft bei sich zu tragen. «Wenn ich dann mal im Krankenhaus liege, werden sie mich sicher schneller sterben lassen, nur um an meine Organe zu kommen», argumentieren beispielsweise einige.

Professor Günter Kirste, medizinischer Vorstand der DSO, widerspricht dem. «Oberstes Ziel der Ärzte bleibt weiterhin, das Leben des ihm anvertrauten Patienten zu retten. Nur, wenn jemand nicht gerettet werden kann, wird die Organspende eine Option.» Außerdem sei die Organspende klar rechtlich geregelt: «Zuerst müssen zwei Mediziner unabhängig voneinander den Hirntod des potenziellen Spenders feststellen, also den Ausfall aller Hirnfunktionen. Dann muss eine Einwilligung zur Spende vorliegen. Entweder durch den Organspenderausweis oder durch die Angehörigen.»

Wer genau ihr Spender war, weiß Claudia Kotter nicht. «Ich denke aber jeden Tag an ihn, frage mich, was für ein Mensch er war und wie es der Familie geht», sagt sie. «Die Transplantation war lebensnotwendig für mich, es war für mich die einzige Option weiterzuleben.» Deswegen hat sie das Organ nicht nur dankend angenommen, sondern freut sich riesig über dieses Geschenk. «Ich bin jeden Tag aufs Neue begeistert, was ich mit der Lunge alles machen kann», erzählt sie während sie übers ganze Gesicht strahlt.

Sicher, sie geht jede Woche zum Arzt und lässt ihre Werte kontrollieren. Und sie muss jeden Tag bis zu elf Medikamente nehmen, damit ihr Körper die Lunge nicht abstößt. Doch für Claudia Kotter sind das keine Einschränkungen. «Mir war schon immer wichtig, was ich alles machen kann, nicht, was nicht geht», sagt sie. Deswegen engagiert sie sich nicht nur bei dem von ihr mitbegründeten Projekt Junge Helden, wo sie junge Leute bundesweit über Organspende aufklärt. Sie sieht auch sonst alles lieber optimistisch: «Ich kann Fahrrad fahren, reisen, zum Bus laufen, Sport treiben – ich kann wieder alles machen, was ich will und das ist wirklich klasse!.»

Von Aliki Nassoufis