Bernhard Vogel: Gott schütze Thüringen

Die Parteifreunde in Rheinland-Pfalz wollten ihn nicht mehr, die in Thüringen brauchten ihn. Und so folgte dem spektakulären Rücktritt als CDU-Landesvorsitzender am 11. November 1988 und wenig später vom Amt des Ministerpräsidenten ein historisches Comeback: Bernhard Vogel wurde am 5. Februar 1992 Ministerpräsident in Thüringen. Er ist der einzige deutsche Politiker, der dieses Amt in zwei Bundesländern übernahm.

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Von Gabi Novak-Oster

Bernhard Vogel am am 11. November 1988 in der Koblenzer Rhein-Mosel-Halle. Sein Konkurrent Hans-Otto Wilhelm hatte sich als Landesvorsitzender der CDU durchgesetzt, Vogel ist entsetzt und wirft hin – mit den fast legendär gewordenen Worten „Gott schütze Rheinland-Pfalz“.

Herbert Piel

Bernhard und sein Bruder Hans-Jochen Vogel.

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Bernhard Vogel.

Elf Jahre im Mittelpunkt

Elf Jahre blieb Bernhard Vogel Ministerpräsident im geografischen Mittelpunkt Deutschlands, ehe er aus Altersgründen einem Jüngeren – und einem Ostdeutschen – Platz machte. Das war vor elf Jahren. Die Vergangenheit aber wird für den heute 81-Jährigen immer ein Stück Gegenwart bleiben. Wir blicken mit ihm in Speyer auf die Thüringen-Zeit zurück.

Gestern Aufenthalt in Erfurt, heute Nachmittag mit dem Zug nach Berlin. Da werden die Bücherstapel vor dem schon jetzt gut gefüllten Regal wohl noch ein wenig aufs Einsortieren warten müssen. Der promovierte Dr. Phil. ist nach wie vor ein gefragter Mann, als Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, als Referent bei hochkarätig besetzten Veranstaltungen, als Schirmherr eines Kinder- und Jugendzentrums in Ruanda und natürlich als gern gesehener Gast in Thüringen.

Am 9. November 1989 ist Vogel mit Kanzler Kohl in Warschau

Bernhard Vogel hat in der Küche Kaffee „aufgesetzt“ und serviert ihn nun. Er lässt sich in den bequemen Sessel fallen und nimmt für sich die Auftaktfrage in Anspruch: Ob wir uns Ende 1992 noch in der alten Staatskanzlei zum Gespräch getroffen hätten, in der „Eierkiste“, dem ersten Hochhaus in Erfurt? Ja, das war so. Über die räumlichen Begebenheiten, einschließlich Paternosteraufzug, muss Bernhard Vogel heute noch schmunzeln. Es dauert bis zum Umzug in modernere Räume der alten Mainzer Statthalterei, doch das ist nur eine Nebenbemerkung zur Auflockerung. Was sich schnell zeigt: Vogel erinnert sich an viele Details, an Wochen- und Jahrestage, an Begegnungen, an seine Arbeit. Und natürlich daran, wie alles begann.

Am 9. November 1989 weilt Bernhard Vogel als Gast einer von Bundeskanzler Helmut Kohl geführten Delegation in Warschau. Beim Abendessen verspürt er eine gewisse Unruhe und bemerkt, wie Kohl Zettel zugesteckt werden: Die Mauer ist gefallen. „Im Hotel habe ich die ganze Nacht vor dem Fernseher gesessen.“ Noch ahnt Vogel nicht, welche Rolle er im neuen Deutschland spielen wird.

Erst wollte er nicht…

Nach der Wiedervereinigung und den ersten Landtagswahlen wird Josef Duchac Ministerpräsident in Thüringen, tritt aber nach wenigen Monaten „überfordert“ zurück. Der Thüringer CDU-Vorsitzende Willibald Böck fragt Bernhard Vogel, ob er sich vorstellen könne, nach Thüringen zu kommen. „Ich antwortete zögerlich.“ Schon deshalb, weil er gerade den Vorsitz in der Adenauer-Stiftung übernommen hat, die mit der Grenzöffnung vor völlig neuen Aufgaben steht. Auch Kanzler Kohl möchte Vogel an der Spitze der Stiftung halten. „Allerdings hatte ich das Gefühl, dass er einen anderen Kandidaten für Thüringen hatte.“ So steht nach einem Telefonat mit dem Kanzler fest: „Ich gehe nicht.“ Thema abgehakt.

… dann muss er doch

Bernhard Vogel fährt am nächsten Tag nach München zu einer Sitzung der Hanns-Seidel-Stiftung. Beim Mittagessen kommt eine Kellnerin und will wissen: „Hoast hia oana Vogel?“ Vogel bekennt sich und hat wenig später Kanzler Kohl am Telefon – im Gang zwischen Buffet und Toilettentür. Kohl spricht von einer vierstündigen Diskussion mit Ost-Politikern über die Ministerpräsidentenfrage. „Nur auf deinen Namen gibt es eine Einigung. Du musst!“

Heute erzählt Bernhard Vogel locker von dieser Situation, erinnert sich aber: „Ich bin wohl blass an den Tisch zurück.“ Er isst noch seine Suppe und lässt sich dann nach Erfurt fahren. „Ohne alles. Ohne Zahnbürste und Schlafanzug. Ich wollte von München abends ja wieder nach Hause.“ Doch es geht jetzt Richtung Osten.

Welche Gedanken begleiten ihn? Auch das weiß Vogel noch: „Ich bin gefahren mit dem schlichten Gefühl: Du hast 60 Jahre auf der Sonnenseite Deutschlands gelebt. Und wenn die dich jetzt tatsächlich brauchen, dann ist das überhaupt keine Frage, dann musst du bereit sein zu helfen.“ Nach vier Stunden erreicht Vogel die thüringische Landeshauptstadt Erfurt. „Daraus sind elfeinhalb Jahre geworden.“

Die Thüringer kennen ihn aus der Mainzer Fernsehfastnacht

Thüringen ist Vogel nicht unbekannt. Privat besuchte er Kirchen, Schlösser, Museen, das Goethehaus, das Schillerhaus, den Rennsteig. „Aber ich hatte keinen Betrieb und keine Schule von innen gesehen.“ Er hält kurz inne. „Ich hatte zwar Kenntnis, aber die Menschen kannte ich nicht.“ Am nächsten Morgen stellt sich der „Neue“ beim Koalitionspartner FDP vor. Nach der nächsten Wahl und dem Ausscheiden der FDP muss Vogel eine Große Koalition eingehen, ehe die CDU 1999 die absolute Mehrheit erreicht. Am 5. Februar 1992 wird Bernhard Vogel erstmals zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt.

Die Anfänge sind nicht einfach, die Erwartungen groß. Was Bernhard Vogel zugute kommt: „Man kannte mich durchs Fernsehen.“ Schon vor der Wende schauten auch die Thüringer im West-Fernsehen die Sendung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht.“ Da war Vogel Stammgast.

„Schier unlösbare Probleme“

An allen Ecken und Enden sind „schier unlösbare Probleme“ zu bewältigen, und das möglichst sofort. „Es zeigte sich, dass niemand in Deutschland einen Plan hat, wie man das macht.“ Denn keiner hatte sich vorstellen können, dass eine Wiedervereinigung über Nacht passiert. Normalerweise, fügt Vogel hinzu, wird in solchen Situationen eine Kommission gebildet, die nach zwei Jahren Arbeit ihre Ergebnisse zur Beratung vorlegt. Das ist jetzt anders.

„Abenteuerlich“ beschreibt Bernhard Vogel die Situation. Als er 1988 in Rheinland-Pfalz aufhört, hinterlässt er ein „gesätteltes Land“. Die Menschen in Thüringen merken, dass er regieren kann. „Aber ich konnte nicht telefonieren.“ Auf einer Anhöhe, dem Steigerwald, ist das möglich – morgens um 6. In Bonn nimmt um diese Uhrzeit natürlich keiner ab. „Ja“, wiederholt er, „ich wusste schon, wie man regiert, aber dass es keinen Schlüssel zum Kabinettssaal gab und die Sitzung nicht beginnen konnte...“ Er stockt. „Das waren die Realitäten.“

Gefragt sind scheinbar banale Dinge. Nie zuvor, sagt Vogel, hat er sich im rheinland-pfälzischen Kabinett mit dem Begriff „Katasteramt“ befassen müssen. In Thüringen lernt er: „Wenn man keine Katasterämter hat, kann man einem ansiedlungswilligen Unternehmer kein Grundstück anbieten. Also haben wir uns sechs Monate lang mit dem Aufbau von Katasterämtern befasst.“ Fast überall muss neu angefangen werden. Zum Beispiel in den Schulen, wo es zwar ausreichend Lehrer für Russisch, aber keine für Englisch gibt. Landräte müssen gewählt werden – „aber keiner wusste, was das ist“.

Der Besuch von Clinton ist ein Höhepunkt seiner Amtszeit

Zwar spricht Bernhard Vogel von einer „bewundernswerten Improvisiergabe der Ostdeutschen“, aber haben ihn die ständigen Probleme nicht zermürbt? „Nein“, sagt er spontan. „Motiviert schon eher.“ Er sucht nach einer dritten Erklärung: „Nachdem ich gewählt war, gab es kein Überlegen mehr. Man musste handeln, über Jahre hinaus.“ Da verbietet sich die Frage, ob er den Wechsel nach Thüringen bereut hat. Das Amt, die Aufgabe machen Freude – „wenn Freude nicht mit Spaß gleichgesetzt wird“.

Erfolge verbucht Bernhard Vogel ungern für sich allein. Er sieht sie bei jenen Menschen in verantwortungsvollen Positionen, wie Landräte und Bürgermeister, die ihre Aufgaben gelöst haben. Heute, nach 25 Jahren, sagt er: „Die Überwindung der Teilung ist alles in allem gelungen.“ Wichtig ist ihm vor allem, die Universität Erfurt zu gründen, und zufrieden blickt er auf fast alle verwirklichten Verkehrsprojekte. Nicht minder wichtig ist Bernhard Vogel damals wie heute der Kontakt zu den Menschen. Die Fähigkeit zuzuhören kommt ihm dabei zugute. Den Begriff Landesvater mag er eigentlich nicht, aber „in Thüringen wird er gewollt“, und das nimmt er an. Den Besuch von Präsident Clinton ist ein besonderer Höhepunkt, der Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium die schwierigste Situation seiner Amtszeit.

Was hat Vogel in Thüringen aus Rheinland-Pfalz vermisst, was heute in Rheinland-Pfalz aus Thüringen? Er lacht. „Die Thüringer trinken Bier und essen Bratwurst, die Rheinland-Pfälzer lieben Wein und Saumagen. Ich leugne nicht, mir schmeckt am besten Bratwurst und Wein.“

1988 verlässt Bernhard Vogel die Koblenzer Rhein-Mosel-Halle mit dem oft zitierten Satz: „Gott schütze Rheinland-Pfalz.“ Ein Satz, der weder vorbereitet noch geplant ist, sondern „spontan gesagt“. Als sich Vogel 2003 aus Thüringen verabschiedet, gibt es „keine vergleichbare Situation“. Er überlegt kurz. „Trotzdem: Der Satz ,Gott schütze Thüringen' passt heute auch.“ Die gleichen Worte, doch sie klingen anders als in Koblenz.