Tschernobyl/Koblenz

30 Jahre nach dem Super-GAU: Koblenzer Firma hüllt Atomruine in Tschernobyl ein

Einige Hundert Meter entfernt vom Atomreaktor Tschernobyl ist eine gewaltige Metallhülle mit einer Spannweite von 250 Metern gebaut worden, die später über den Beton-Sarkophag geschoben werden soll. Diese soll verhindern, dass aus der Ruine weiter Strahlung freigesetzt wird. Die Innen- und Außenwände hat die Koblenzer Firma Kalzip verlegt.  Foto: dpa
Einige Hundert Meter entfernt vom Atomreaktor Tschernobyl ist eine gewaltige Metallhülle mit einer Spannweite von 250 Metern gebaut worden, die später über den Beton-Sarkophag geschoben werden soll. Diese soll verhindern, dass aus der Ruine weiter Strahlung freigesetzt wird. Die Innen- und Außenwände hat die Koblenzer Firma Kalzip verlegt. Foto: dpa

Fast 30 Jahre nach der Atom-Katastrophe von Tschernobyl entsteht in der «Todeszone» ein neuer Schutzmantel für den explodierten Reaktor. Die Koblenzer Firma Kalzip steuert die Innen- und Außenwände bei.

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Von unserem Redakteur Dirk Eberz

Monatelang hat Christoph Schmidt über Plänen gebrütet, mit Geschäftspartnern und Kunden verhandelt. Mit einem Projektteam der Koblenzer Firma Kalzip aus Bauingenieuren, Maschinenentwicklern und Statikern ist nach immer neuen Lösungen für technische Probleme gesucht worden, die sich noch keinem Ingenieur gestellt haben. Und dann steht das Team plötzlich vor der wohl gefährlichsten Bauruine der Welt. Ein grauer, fensterloser Sarkophag aus Stahlbeton. Tschernobyl. Der Inbegriff des Super-GAUs. „Ein gewaltiger Klotz, der auf mich aber irgendwie nicht bedrohlich wirkte“, erinnert sich Projektbetreuer Schmidt.

Präzisionsarbeit in luftiger Höhe: 100 Quadratmeter Edelstahlpaneelen (rechts) haben die Mitarbeiter der Koblenzer Firma Kalzip durchschnittlich pro Tag verlegt. Die gerade mal 0,6 Millimeter dicken Außenwände halten theoretisch einem Tornado der Klasse drei stand.  Foto: Christoph Schmidt
Präzisionsarbeit in luftiger Höhe: 100 Quadratmeter Edelstahlpaneelen (rechts) haben die Mitarbeiter der Koblenzer Firma Kalzip durchschnittlich pro Tag verlegt. Die gerade mal 0,6 Millimeter dicken Außenwände halten theoretisch einem Tornado der Klasse drei stand.
Foto: Christoph Schmidt

Doch wer heute auf die verwegene Idee käme, über die Kuppel zu spazieren, wäre wohl schon bald tot. Direkt über dem Reaktor reichen eineinhalb Minuten aus, um die Strahlendosis eines Jahres abzubekommen. Als noch weitaus beklemmender empfindet Schmidt die Stille. „Es gibt kein Vogelgezwitscher. Überhaupt hört man keine Tierstimmen.“ Vor seinen Augen rostet das Riesenrad vor sich hin, auf dem nie wieder Kinder spielen werden. „Da merkst du plötzlich, wie vergänglich die Welt ist“, sinniert Schmidt. Keine 30 Jahre hat es gedauert, bis sich die Natur den verseuchtesten Flecken der Erde zurückerobert hat. Die Geisterstadt Prypjat darf nur mit Führern betreten werden. Aus den Häusern wachsen die Bäume. Bei einem Mann aus der Gruppe, der für ein Foto den vorgezeichneten Weg verlässt, schlägt der Strahlenmelder aus. Das Gelände ist hoch kontaminiert.

Auf dem Boden der Schule liegen Gasmasken für Kinder verteilt

Auch Anke Linder ist damals mit dabei. Am tiefsten eingebrannt haben sich der Kalzip-Projektleiterin die Bilder aus der Schule eines kleinen Dorfes. „Auf dem Boden lagen Gasmasken für Kinder“, erzählt sie. Gedacht für Störfälle. Gegen die Katastrophe, die sich 1986 um Tschernobyl abspielt, können sie nichts ausrichten. Die Uhr an der Turnhalle nebenan ist damals stehen geblieben. Auf der Rückfahrt herrscht Schweigen im Bus. „Alle wollten nur noch schnell unter die Dusche, um alles abzuwaschen“, blickt Anke Linder zurück.

Spezialeinheiten messen auf einem Feld innerhalb der Sicherheitszone von Tschernobyl die Radioaktivität (im Mai 1986).

dpa

Blick auf den Betonmantel um das geborstene Kernkraftwerk Tschenobyl.

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Eine schwere Explosion hatte am 26. April 1986 den Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tscherobyl in der Ukraine zerstört. 32 Menschen starben sofort, tausende an den Spätfolgen nuklearer Verstrahlung. 120.000 Menschen mussten umgesiedelt werden. Wolken und Winde trugen die freigesetzte Radioaktivität auch nach Westeuropa.

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Von einem Hubschrauber aus wurde im Januar 1991 diese Übersicht des Atomkraftwerks Tschernobyl aufgenommen. Eine schwere Explosion zerstörte am 26. April 1986 den Reaktorblock II des Kernkraftwerks.

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Eine Angehörige eines Tschernobyl-Opfers steht zwischen Gedenksteinen in Kiew am 26. April 1999 während einer Gedenkveranstaltung. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Rostende Auto-Scooter auf dem Festplatz der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl. Das Volksfest zum 1. Mai 1986 fiel aus. Am 26. April 1986 kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU.

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Blick auf den Eingang zum einstigen Hotel der gesperrten ukrainischen Stadt Pripjat im Sperrgebiet nahe dem Unglücksreaktor von Tschernobyl am 7. April 2011.

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Das geisterhaft leere Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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Der Kulturpalast im Stadtzentrum von Pripjat im April 2011.

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Und so verfliegt erst mal die Feierlaune über den dicken Auftrag, den Kalzip mühsam an Land gezogen hat. Ein zweistelliger Millionenbetrag. Es ist bis dahin das größte Projekt der Unternehmensgeschichte. Als der Weltmarktführer 2010 angefragt wird, am neuen Sarkophag für den Reaktor in Tschernobyl mitzuarbeiten, ist der Geschäftsführung sofort klar, welche Chance sich bietet. Der Spezialist für großflächige Überdachungen soll eine Schutzhülle aus Edelstahl konstruieren, die sich bogenförmig über die Ruine spannt, um das Austreten von verstrahlten Partikeln zu verhindern. Ein 2,1 Milliarden Euro schweres Projekt, das vornehmlich von der EU und den G 7-Staaten finanziert wird. Am Ende erhält das französische Konsortium Novarka den Zuschlag als Generalunternehmer. Kalzip soll Innen- und Außenhaut verlegen – insgesamt rund 160 000 Quadratmeter. „Die Mitarbeiter hatten zum ersten Mal das Gefühl, dass durch sie etwas wirklich besser wird“, sagt Projektbetreuer Schmidt.

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Innerhalb der Belegschaft von Kalzip mit seinen weltweit rund 500 Mitarbeitern – 170 davon in Koblenz – hält sich die Begeisterung über das Projekt zunächst jedoch in engen Grenzen. Tschernobyl. Das klingt für viele wie eine Reise in den Tod. Jetzt gilt es erst mal, Überzeugungsarbeit zu leisten. Kalzip-Geschäftsführer Jörg Schwall hat festgelegt, dass nur Freiwillige auf die Baustelle geschickt werden. Aber erst als die deutschen Strahlenexperten von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ihr Konzept vorstellen und die Risiken genau beziffern, lässt das Unbehagen nach. „Da hat sich vieles relativiert“, sagt Schwall. Am Ende melden sich 14 Freiwillige. Alle werden regelmäßig medizinisch untersucht. Dazu erhalten sie drei Strahlenmesser – einen ukrainischen, einen europäischen und einen deutschen. Sicher ist sicher. Bei keinem werden letztlich überhöhte Werte gemessen.

Denn die gigantische Schutzhülle wird rund 500 Meter vom Reaktor entfernt aufgebaut. Als Fundament wird eine zwei Meter dicke Betonplatte gegossen. „Die hält die Strahlen ab“, erklärt Christoph Schmidt. „Wer in manchen Regionen des Bayerischen Walds wandern geht, bekommt laut GRS-Experten mehr Strahlen ab als wir auf unserer Baustelle.“ Und so wird nicht etwa in dicken Schutzanzügen gearbeitet, sondern in normaler Berufskleidung. Essen und trinken ist dort freilich nicht erlaubt. Niemand darf sich auf den Boden setzen. „Oberste Zielsetzung war eine Minimierung der Gefährdung“, betont Geschäftsführer Schwall. Auch die Fahrzeuge, mit denen die Kalzip-Truppe zur Baustelle gefahren wird, werden auf Strahlung geprüft. Liegt die Dosis zu hoch, werden die Schuhe dekontaminiert.

Kalzip hat insgesamt 1000 Tonnen Edelstahl in Tschernobyl verbaut

Schritt für Schritt wächst das Stahlgerüst ab 2012 schließlich 108 Meter in die Höhe. 31 000 Tonnen wird das Ungetüm am Ende wiegen. Die Spannweite liegt bei gut 250 Metern. Gewaltige Dimensionen, die eine logistische Kraftanstrengung erfordern. Kalzip produziert die bis zu 100 Meter langen und jeweils 30 Zentimeter breiten Stahlpaneelen dabei in mobilen Produktionsanlagen – sogenannten Rollformern. Durchschnittlich 100 Quadratmeter verlegen die Mitarbeiter der Koblenzer Firma pro Tag. Und zwar mit höchster Präzision. Die Vorarbeit haben bereits die Ingenieure in Koblenz erledigt. 1000 Tonnen werden so bis 2015 innen und außen verbaut.

Unsere Grafik zeigt die gewaltige Metallhülle, die den Atomreaktor abdichten soll:

Gerade mal 0,6 Millimeter dünn sind die Paneelen, aber extrem robust. „Da können Sie problemlos drüberlaufen“, sagt Schmidt. Und nicht nur das: In der Ausschreibung wurde gefordert, dass die Außenwand den enormen Sogkräften eines Tornados der Klasse drei standhalten muss. Nicht nur theoretisch. Die Naturgewalt wird dazu im Feldversuch simuliert. Fazit: bestanden. Der Edelstahl aus dem Hause Kalzip wird allerdings auch noch weit kurioseren Tests unterzogen. So wird das Dach etwa aus fünf Metern mit 20 Kilogramm schweren Eisklumpen bombardiert. „Manchmal fragt man sich schon, wer sich so was ausdenkt. Aber man muss eben auch an unerwartete Wetterphänomene denken“, sagt Schmidt. Auch hier hält die Konstruktion übrigens stand – trotz einiger Beulen. Wichtiger ist, dass der Stahl undurchlässig bleibt.

Mittlerweile ist das Projekt Schutzhülle aus Sicht der Koblenzer abgeschlossen. Das Stahlkonstrukt steht. Jetzt muss es nur noch über den Reaktor drüber. Ein italienisches Unternehmen hat dazu einen Teflongleiter entwickelt, mit dessen Hilfe die 31.000 Tonnen auf Schienen über die Atomruine geschoben werden sollen. Wenn alles klappt, könnte die Welt bald ein Stück weit sicherer sein. Zumindest für die kommenden 100 Jahre. Denn so lange soll die Schutzhülle nach den Plänen halten.