20 Jahre Völkermord: Ruandas Narben, die bis heute schmerzen

Schwere Machetenhiebe haben das Gesicht von Innocent Gakwerere (32) aus Ruanda gezeichnet. Die Schatten der Vergangenheit wird er wohl nie wieder los. Dieses Bild von Thomas Lohnes ist unter anderem in der Ausstellung "Zurück ins Leben" im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Bad Kreuznach zu sehen.
Schwere Machetenhiebe haben das Gesicht von Innocent Gakwerere (32) aus Ruanda gezeichnet. Die Schatten der Vergangenheit wird er wohl nie wieder los. Dieses Bild von Thomas Lohnes ist unter anderem in der Ausstellung "Zurück ins Leben" im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Bad Kreuznach zu sehen. Foto: Thomas Lohnes

Ruanda/Rheinland-Pfalz – Kurz bevor das Unbeschreibbare seinen Lauf nimmt, scheint die Stadt noch einmal Luft zu holen. „Hier in Kigali ist es etwas ruhiger geworden“, notiert Rudolf Fischer, Leiter des rheinland-pfälzischen Koordinierungsbüros, am 29. März 1994 in seinem Lagebericht an das Mainzer Innenministerium und schränkt gleich ungläubig ein. „Vielleicht haben wir uns aber nur an die Schießereien und Explosionen nachts gewöhnt.“

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Von unserem Redakteur Dietmar Telser

Es sind nurmehr acht Tage bis zum Fanal für einen der blutigsten Konflikte, die Afrika gesehen hat, acht Tage bis zu dem Abend, an dem die Dassault Falcon 50 des Präsidenten Ruandas von einer Boden-Luft-Rakete getroffen wird und einen Steinwurf von der Präsidentenvilla entfernt zerschellt, acht Tage bis zum Beginn des Völkermordes. Mehr als 800 000 Tutsis und gemäßigte Hutus werden in nicht einmal 100 Tagen brutal getötet, mit Macheten und Keulen, oft von Freunden oder Nachbarn.

Rudolf Fischer (75) kann heute die Stufen der Eskalation an seinen damaligen Lageberichten ablesen. Akribisch hat er im Vorfeld des Konfliktes jeden Übergriff festgehalten. In jenen Monaten trifft er sich regelmäßig mit Vertretern der UN und Nichtregierungsorganisationen in Kigali.

Die Lage wird von Woche zu Woche schwieriger, die Milizen rüsten auf, die Anschläge häufen sich. Auch die Aussagen des Kommandeurs der Blauhelmtruppen, Roméo Dallaire, bei diesen Treffen lassen Fischer Schlimmes erahnen. Der Kanadier führt ein Häuflein schlecht ausgerüsteter UN-Soldaten. Bereits vor Wochen hat er das Hauptquartier der Vereinten Nationen davon informiert, dass Todeslisten kursierten, dass Waffenlager im Land entdeckt wurden, dass er einen systematischen Völkermord befürchtet. Doch die dringend benötigte Verstärkung bleibt aus. Das Mandat der UN sieht einzig die Selbstverteidigung vor.

Auch Rudolf Fischer ist beunruhigt. In seinem Lagebericht an das Innenministerium schreibt er voller Sorge: „Derzeit kostet der Einsatz der Blauhelme hier in Ruanda circa 700 000 bis 800 000 Dollar pro Tag. Die UN will deshalb den Einsatz ... offensichtlich neu überdenken.“

Eine fatale Mischung

Es ist eine fatale Mischung, die sich zusammengebraut hat. Der Konflikt mit den aus den Nachbarländern angreifenden Tutsi-Rebellen Anfang der 90er-Jahre hat das Land geschwächt. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, die Kaffeepreise sinken rapide, Weltbank und IWF verlangen fast unmögliche Anstrengungen von dem Land, um neue Darlehen zu erhalten. Die Macht der Regierung schwindet mit jedem Tag. Radiosender missbrauchen die neu errungene Pressefreiheit, um Hass zwischen Hutu und Tutsis zu säen.

Es sind nicht nur die Stimmen der Radiosender, die sich ändern. Auch die Menschen sprechen nun eine andere Sprache. Als Rudolf Fischer ein Projekt begutachtet, wundert er sich über eine neue Begrüßungsformel der Dorfchefs. Später lässt er sich den Satz von seinem Fahrer übersetzen und erfährt: Der Bürgermeister grüßt mit „Jagt die Kakerlaken!“. Gemeint sind die Tutsis.

Fischer muss zusehen, wie die Saat des Hasses zu keimen beginnt. Als er am 6. April vom Abschuss der Präsidentenmaschine erfährt, harrt er mit seinen Mitarbeitern zunächst auf dem Gelände der Partnerschaft aus. Draußen hat das Morden begonnen. Erst als er beobachtet, wie schwarze Limousinen Regierungsmitglieder in das benachbarte Hotel fahren und die Einschläge immer näher kommen, fasst er gemeinsam mit seiner Frau den Entschluss, das Land zu verlassen. Fischer schließt sich einem von der US-Botschaft organisierten Konvoi an und flüchtet nach Burundi.

Lebensmittelreserven retten das Leben

Nur die beiden Wachmänner des Rheinland-Pfalz-Hauses bleiben. Die Gewalt greift inzwischen auf weitere Teile des Landes über. Ehemalige Mitarbeiter klopfen nun an die Tore des Büros und finden Zuflucht auf dem Gelände. Hutus und Tutsis sind unter ihnen, sie schützen sich gegenseitig. Fischer gibt aus Deutschland durch, wo die Schlüssel der Räume eingegraben wurden. Die Lebensmittelreserven, die Fischers Team zurückgelassen haben, retten ihnen das Leben.

Als Fischer wenige Monate später wieder nach Ruanda reist, öffnet ihm lächelnd ein ehemaliger Wächter das Tor. Er lebt und mit ihm auch alle Mitarbeiter.

„Wir haben keinen verloren“, sagt Fischer heute. Doch der Neuanfang ist schwer. Viele ehemalige Partner sind nicht mehr zu finden. Manche, weil sie getötet wurden, andere, weil sie zu den Tätern gehörten und flüchten mussten.

Ein Politikerbesuch gibt der Partnerschaft schließlich einen Ruck. Als erster Politiker reist der ehemalige rheinland-pfälzische Innenminister Walter Zuber im Oktober nach Ruanda. „Ein sehr wichtiges Signal an Ruanda, das uns die Zusammenarbeit erleichtert hat“, sagt Fischer. Doch die Aussöhnung sollte ein langer Weg werden. Die Menschen sprechen nicht miteinander, fällt Fischer bei seiner ersten Rückkehr auf. Zu groß sind das Misstrauen, die Wut und die Scham. Es gibt viele Opfer, aber auch viele Beschuldigte.

Heute, 20 Jahre später, ist die juristische Aufarbeitung beinah abgeschlossen. Die traditionellen Dorfgerichte „Gacaca“ haben ihre Arbeit 2012 beendet, der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda soll in diesem Jahr seine letzten Urteile fällen, in Frankfurt fällt im Februar auch erstmals ein deutsches Gericht ein Urteil gegen einen Bürgermeister wegen Beihilfe zum Genozid. Und doch sieht Fischer die Zukunft des Landes mit Sorge.

Wir sind alle Ruander

Ruanda verbietet heute jegliche Unterscheidung zwischen Hutu und Tutsi, jegliches neue Aufflammen von Konflikten wird mit harter Hand von einem autoritären Regime unterdrückt. „Wir sind alle Ruander“ ist der Slogan, der das Land auf dem ersten Blick geeint hat.

Doch haben die Menschen wirklich vergessen? „Das Verbot der ethnischen Unterscheidung ist ein Totschlagargument, um die Opposition zum Schweigen zu bringen“, sagt Fischer. Langfristig könnte dies zum Problem werden. Noch wächst das Bruttoinlandsprodukt jährlich um rund 7 bis 8 Prozent. Doch das Armutsgefälle zwischen Stadt und Land ist enorm. Gerade 11 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Strom. „Wenn es erneut zu einer Wirtschaftskrise kommt, könnte wieder die ethnische Karte gespielt wird“, fürchtet er.