Mainz

„Heute vor 75 Jahren“: Historiker zeichnen Novemberpogrome auf Twitter nach

Reichspogromnacht – der Begriff sagt jedem etwas. Doch wie es dazu kam, wie sich der Schrecken entwickelte, wie es Menschen ganz persönlich traf: Das wird auf Twitter gerade lebendig – auf Basis von Fakten. „Heute vor 75 Jahren“ ist ein Projekt von fünf Historikern, darunter Petra Tabarelli aus Ockenheim bei Mainz, die den Blick aufs Rhein-Main-Gebiet richtet.

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Von unserem Redakteur Lars Wienand

Eine Mutter mit zwei Kindern wird festgenommen und an den Rhein geführt, bewusst vorbei an zerstörten jüdischen Geschäften. Als die Nazi-Schergen die jüdische Frau wieder gehen lassen und sie zurückkommt in ihre Wohnung, ist auch die völlig zertrümmert: November 1938 in Mainz. Nach solchen Begebenheiten im Umfeld der Pogromnacht hat Petra Tabarelli in Stadt- und Universitätsbibliothek gesucht. Die Historikerin (30) hat sich dem Projekt des Heidelberger Kollegen Moritz Hoffmann (29) angeschlossen.

Fünf Geschichtswissenschaftler streuen in den Kurznachrichtendienst Twitter Inhalte ein, die so etwas wie virtuelle Stolpersteine sind. Die Geschehnisse „heute vor 75 Jahren“ verspricht @9Nov38 - und beschränkt sich damit eben nicht nur auf den einen Tag, sondern ordnet ihn ein.

„Bei der Reichspogromnacht denken die Menschen immer an den 9. November“, sagt Petra Tabarelli. Doch die Geschehnisse waren keine singulären Ereignisse an dem 9. November. So begann das Projekt auf Twitter auch bereits am 28. Oktober – mit 113 Zeichen:

Die große Welle an Zerstörungen und Übergriffen gab es auch erst am 10. Denn am 9. hatte sich abends erst die Kunde breitgemacht, dass der deutsche Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris an den Folgen eines Attentats des Juden Herschel Grynszpan gestorben war: Die Nachricht ließ sich vom Regime als Öl in das Feuer gießen, das dann die Synagogen erfasste. Tausende wurden in der Folge bei den Novemberpogromen zerstört, 400 Menschen verloren ihr Leben unmittelbar, rund 30.000 Menschen wurden in Konzentrationslager gebracht.

Auch in Mainz brannte es dann in der Folge, wurden Geschäfte zerstört und die Synagoge wurde angesteckt. „Es ist allerdings dazu wenig überliefert, es gibt wenige Augenzeugenberichte“, so Tabarelli. Und getwittert wird nur Material, das nach wissenschaftlichen Kriterien ausgewählt und durch Literatur und Quellen belegt ist. 30, 40 Tweets aus Mainz werden es sein – vorläufig.

Denn die Tweets finden sich zwar in einer Tabelle vorbereitet bei den Historikern, aber die Liste ist noch nicht abschließend. Bis Ende November oder sogar in den Dezember hinein könnte das Projekt gehen. Der große Vorteil: Es endet damit nicht dann, wenn die Aufmerksamkeit am größten ist und der Account viele Follower auf sich gezogen hat.

Tweets von@9Nov38

Ganz neu ist der Ansatz nicht: Der MDR hatte den Mauerfall in verteilten Rollen unter dem Account 9Nov89live nachgespielt. Und der englische Verlag „The History Press“ spielte nicht nur den Untergang der Titanic nach, sondern lässt auch die Ereignisse um Jack the Ripper lebendig werden. Selbst ein Joseph von Nazareth twitterte die Weihnachtsgeschichte schon aus seiner – recht frei erfundenen – Sicht.

Auch im Geschichtsunterricht wird Twitter so eingesetzt. Daniel Bernsen, regionaler Koordinator des Programms „Medienkompetenz macht Schule“ am Landesmedienzentrum in Koblenz, setzte den Kurznachrichtendienst schon früh ein, wie er 2010 in einem Workshop erläuterte. Er orientierte sich an „Twhistory“-Vorbildern aus den USA, wo etwa die Kuba-Krise in Form von Twitter-Einträgen bereits nacherzählt worden war. „Für das Fach Geschichte ist das Twittern sehr gut geeignet“, befand der Lehrer. Seine Schüler hätten bewiesen, dass sie Dinge gut zusammenfassen können, ohne zu paraphrasieren.

Autor:
Lars Wienand
(Mail, Google+)