Live aus der Vergangenheit: Mauerfall wird auf Twitter nachgespielt

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Das Archivbild vom 10.11.1989 zeigt, wie ein Beamter des Bundesgrenzschutzes einem DDR-Autofahrer am Grenzübergang Helmstedt eine Auskunft gibt. Nach der Öffnung eines Teils der deutsch-deutschen
Grenze   Das Archivbild vom 10.11.1989 zeigt, wie ein Beamter des Bundesgrenzschutzes einem DDR-Autofahrer am Grenzübergang Helmstedt eine Auskunft gibt. Nach der Öffnung eines Teils der deutsch-deutschen Foto: dpa

Magdeburg – Der getwitterte Mauerfall – zum Jahrestag spielt sich beim MDR eine kleine Revolution rund um die große, friedliche Revolution ab. Aus der Sicht von sieben Personen wird der 9. November 1989 in Kurznachrichten nacherzählt – und um dieses Experiment auf Twitter wird sich die Berichterstattung zum Jahrestag im Fernsehen und im Radio drehen.

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Helmstedt, deutsch-deutsche Grenze: West-Grenzer begrüßen Ostbürger, die gerade den Grenzübergang Marienborn passiert haben. Die Mauer ist gefallen. Foto: dpa

Den 10. November 1989 erwartet Frank Rugullis mit Schrecken: Der 19-Jährige soll dann einrücken zu den Bausoldaten. Es wird vorbei sein mit der Freiheit der Jugendtage. Bei den Bausoldaten landen in der DDR die, die den Dienst an der Waffe in der NVA ablehnen und sich damit oft auch ihre Zukunft verbauen. Doch im Laufe des 9. Novembers wird dem 19-Jährigen klar, dass ihn eine noch viel größere Freiheit erwartet: Die Mauer fällt.

Am 9. November 2012 läuft der 9. November 1989 für ihn noch einmal ab – und seine Gedankengänge gibt es zum Mitlesen: Frank Rugullis ist heute Nachrichtenredakteur beim MDR, verantwortlich für den Twitteraccount in Sachsen-Anhalt und steckt mit Kollege Martin Hoffmann hinter dem Projekt @9Nov89live: Aus der Perspektive von sieben Menschen wird der 9. November 1989 auf Twitter erzählt – live aus der Vergangenheit. Die realen Erlebnisse von MDR-Redakteuren finden sich ebenso wieder wie der historisch belegte Tagesablauf von Grenzern und Politikern. Der Countdown läuft bereits:

Tweets von@9Nov89live

Twittern wie am 9. November 1989 ist nicht ganz neu. Blogger Sascha Lobo hatte eine Sammlung der besten Tweets erstellt, nachdem er es zum 20. Jahrestag mit einem Tweet losgetreten hatte. Doch damals war das eine scherzhafte Aktion um Sprachwitz, ein Meme. Launige Tweets von damals lockern auch diesen Text auf.

Der MDR Sachsen-Anhalt ist das Projekt ernsthaft und in Zusammenarbeit mit der Gedenkstelle Deutsche Teilung in Marienborn angegangen. Die war 1989 eine Kontrollstelle „drüben“, hüben war Helmstedt. Damals der wichtigste Transitübergang nach Berlin, an dem auch am 9. November 1989 die Menschen strömten. „Grenzer Marienborn“ tut dort an diesem Tag Dienst – eine der sieben Figuren in dem Twitter-Experiment. Ihre Gedanken und Eindrücke werden in einem Account zusammenfließen. Bis schließlich um 23.59 Uhr „Oberst Jäger“ von einem Dialog mit seinem Stellvertreter twittern, wonach die DDR jetzt Geschichte ist.

Von diesem Harald Jäger weiß man viel: Er war stellvertretender Leiter der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße und war der Mann, der als erster die Massen passieren ließ.

Als Günter Schabowski um 18.53 Uhr die Regelung verkündete, „die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen“ und dass das „sofort, unverzüglich“ eintritt, saß Jäger in der Kantine.

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Das war eine Kommunikationspanne, wie auch die Tweets von „SED-Mann“ zeigen werden – rekonstruierte Einblicke in den innersten Führungszirkel von einem Funktionär, der an allen wichtigen Sitzungen jenes Tages teilgenommen hat.

„Wir werden die Absurdität der Abläufe an dem Tag deutlich machen“, sagt Rugullis vom MDR. Als etwa um 22.42 Uhr Hanns Joachim Friedrich in den Tagesthemen verkündet, dass „die Tore in der Mauer weit offen“ stehen,

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ist das noch lange nicht so, nur tröpfchenweise werden die Menschen bis dato durchgelassen. Danach aber strömen die Menschen erst recht an die Grenze. Und Oberstleutnant Jäger und seine Kollegen vom MfS an der Bornholmer Straße stellen entgegen den Anweisungen die Kontrollen ein – der Damm ist gebrochen.

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Vor diesen dramatischen und bewegenden Momenten werden die Tweets auch den Alltag in der untergehenden DDR vermitteln, auch YouTube-Links zu Musik der Zeit wird es geben. „Es gab auch eine extrem lebendige Hip-Hop-Szene“, sagt Rugullis. Titel zu finden war aber nicht einfach.

Knapp 300 Tweets sind geplant, um die Abläufe des Tages so realistisch wie emotional zu vermitteln. „Frank Halle“, „Kai Magdeburg“, „Kerstin München“, „Grenzer Marienborn“, „SED-Mann“ und „Oberst Jäger“ – sie alle werden vom gleichen Account twittern. Der Gedanke, sie mit verschiedenen Accounts ihre Geschichte erzählen zu lassen, wurde wieder verworfen. Der Stoff soll einfach nachzuvollziehen sein, unter einer Lizenz zur freien Weiterverwertung sollen die Tweets auch in den Unterricht Eingang finden können, so Rugullis. Deshalb wird es zumindest von Oberst Jäger, Kai Magdeburg & Co. keine direkten Antworten an Twitterer geben. „Wir haben uns überlegt, das weiterzuspielen. Aber es soll historisch exakt sein.“

Geschichte in Tweets hat im Unterricht schon Einzug gehalten: Am Koblenzer Eichendorff-Gymnasium spielte ein Leistungskurs die Eroberung Mexikos so durch, eine eigene Seite im Netz versammelt solche 'TwHistory„-Projekte wie auch den getwitterten Untergang der Titanic.

Der MDR wird seine Aktion auf einer Webseite mit weiteren Informationen und zusätzlichem Material unterfüttern. Auf Facebook wird es Einblicke in die Arbeit der MDR-Mitarbeiter geben, die aus der Kantine des einstigen Grenzübergangs Marienborn twittern werden. Die Tweets sollen dort auch künftig zu sehen sein. Und: Über Facebook sollen dann auch Reaktionen gesammelt werden und ins Hörfunk- und TV-Programm einfließen. “Im Kern steht aber das Twitterprojekt, und das gab es so noch nie bei uns.„

Frank Rugullis hat dann am 10. November tatsächlich seinen Dienst bei den Bausoldaten angetreten. “Aber über Nacht hatte sich der Ton geändert." Die Ausbilder wussten nicht, was sie mit den Bausoldaten anfangen sollten und schicken sie nach zwei Wochen in DDR-Betriebe, Rugullis erst in eine Kokerei und dann als Hausmeister in ein Altenheim bei Bitterfeld. Zum 1. Januar 1990 wurden die Baueinheiten aufgelöst.

Von unserem Redakteur Lars Wienand

Autor:
Lars Wienand
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