++ 06:32 Hafer bei Verbrauchern gefragt – bei Landwirten unbeliebt

Auch 25 Jahre nach dem Mord an Shari heilt die Zeit keine Wunden

Juni 1992. Die Ermordung der sechsjährigen Shari aus Weißenthurm schockiert die Bevölkerung weit über den Ort des schrecklichen Geschehens hinaus. Auch 25 Jahre später ist die Tat unvergessen. Der Name Shari steht für ein brutales Verbrechen, für Kritik an richterlichen Entscheidungen vor und für zweifelhafte Schuldzuweisungen nach der Tat. Vor allem aber zerstörte Sharis Mörder das Glück ihrer Familie. Ein Blick zurück auf Fakten und Emotionen.

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Sie hat noch immer viel zu erzählen, scheut jedoch zunehmend die Öffentlichkeit. Fürchtet, dass ihre Worte falsch gedeutet werden. „Die Bevölkerung hat Anteil genommen, aber richtig verstanden hat mich kaum jemand.“ Wer auch, außer gleichsam Betroffene, kann nachvollziehen, wie es der Mutter eines ermordeten Kindes ergeht, was sie durchmacht, was sie fühlt, wie sie leidet? Irina Weber quält sich seit 25 Jahren durchs Leben. Seit der Stunde, als sie von der Ermordung ihrer sechsjährigen Tochter Shari erfuhr.

Nach unserem ersten Gespräch in diesem Frühjahr ist Irina Weber aufgewühlt. „Es arbeitet in mir.“ Die 53-Jährige kennt das. „Ich habe Shari immer im Kopf. Jeden Tag.“ Und auch die vielen Fragen, die ohne Antwort bleiben. Oft fehlt die Kraft, den Alltag zu bewältigen. Ein Rollstuhl steht bereit, um bei unerträglichen Rückenschmerzen zu helfen. Das Leiden begann ein Jahr nach Sharis Tod. „Der Schmerz kommt aus der Psyche“, hat Irina Weber erfahren und kann nicht widersprechen. „Das Leben wird zum Marathon.“ Immer wieder, sagt sie, hat sie was reingekriegt. Aber deswegen aufgeben? Nein. Die Mutter weiß: „Shari würde kämpfen.“

Irina Weber kämpft seit 25 Jahren. Um Sharis Würde vor allem, betont sie. Gegen ein Verbrechen, das mit einer Vergewaltigung und unbeschreiblichen Qualen beginnt und mit einem brutalen Mord endet. Kämpfen muss sie auch gegen die „furchtbare Einsamkeit“ und nicht zuletzt um eine finanzielle Entschädigung. „Ich musste immer wieder durch alle Instanzen, musste klagen, fühlte mich gedemütigt.“ Das klingt verbittert. Weh tut nicht zuletzt der Vorwurf, sie schlage durch öffentliche Auftritte Kapital aus Sharis Tod.

Kraft geben bis heute Sharis Geschwister. Ihr Bruder Fabrice, zur Zeit der Tat fünf Monate alt. „Mit ihm war Shari seelenverwandt, feinfühlig und sensibel.“ Schwester Madeline ist heute Sozialpädagogin und hat eine Familie. „Sie und Shari waren sich zum Verwechseln ähnlich.“ Die Mutter zeigt ein aktuelles Foto von Madeline, eine bildhübsche Frau. „So wie ihre Schwester würde Shari heute wohl aussehen.“ Das tröstet und schmerzt gleichermaßen. „Wo sind die 25 Jahre?“, fragt die Mutter und findet wieder einmal keine Antwort. Oftmals zitiert sie Stellen aus der Bibel, klammert sich an die Verse. Es ist spürbar, dass ihr der Glaube hilft.

Der Schock über Sharis Tod aber mag nicht weichen. Die Mutter ist sicher: „Er wird bleiben, mein Leben lang.“ Es tut ihr gut, sich mit Eltern auszutauschen, die ein ähnliches Schicksal durchmachen. „Wenn ich mit ihnen spreche, merke ich: Dein Verhalten ist ganz normal.“ Das Hadern, das Weinen, das Trauern, das Grübeln. Die Wut.

Irina Weber hat sich verändert. Ihre Haare sind ergraut, ihre Gangart ist schwerfällig. In der Wohnung hängen Fotos ihrer Kinder, natürlich auch von Shari. „Beim Abstauben krieg ich jedes Mal Heulkrämpfe, dann bin ich fix und fertig.“ Pause. Die Mutter hat Erinnerungen an die ermordete Tochter in eine Kiste gepackt: ihre ersten Schuhe, ein Kleidchen, zwei Puppen. Acht Zöpfe stecken in einem Briefumschlag. „Wenn ich sie in die Hand nehme, denke ich: schlimm.“ Pause. „Wie schlimm, das kann ich nicht ausdrücken.“ Wie oft sehnt sie sich danach, Shari lachen zu sehen. Sich mit ihr zu streiten und zu versöhnen, sie in den Arm zu nehmen.

25 Jahre – Irina Weber wiederholt die Zahl. „Das kann doch gar nicht sein.“ Ein Zeitgefühl hat sie nicht. Weiß nur: „Jeden Tag fällt der Name Shari. Jeden Tag.“ Ihre eigene Zeitrechnung – vor dem Mord und nach dem Mord. „Shari ist Kind geblieben, mein Kind.“ Die Tochter wäre heute 31 Jahre alt, „aber für mich bleibt sie immer die Kleine. Ich funktioniere eben als Mutter.“ Und genau deshalb quält Irina Weber oftmals die Frage: „Trage ich vielleicht eine Mitschuld?“ Sie erinnert sich an den Morgen des 10. Juni, als sich die Tochter mal wieder gedankenverloren auf den Weg aus der Hochhaussiedlung in den nahe gelegenen Kindergarten macht. „Warum habe ich sie allein gehen lassen?“ Sie weiß: Weil die Tochter es so wollte und es auch konnte. Doch die Fragen lassen die Mutter bis heute nicht zur Ruhe kommen. Und noch etwas geht ihr durch den Kopf: Momente, als sie selbst von den Ermittlern verhört wird. „Glaubten die, ich als Mutter hätte Shari etwas angetan?“ Polizeiroutine, die verletzt.

Irina Weber darf nicht alle Ermittlungsakten lesen und nur wenige Tatfotos ansehen. Sie soll geschützt werden, weiß aber um die Brutalität des Verbrechens, kann bis heute nicht begreifen: „Wie schafft es ein Mensch, mit dieser Schuld zu leben?“ Die Mutter belastet auch die Unsicherheit: „Was hat Shari wahrgenommen?“ Sie soll nach der Vergewaltigung ihrem Peiniger gedroht haben: „Das sag ich meiner Mama.“ Und gefleht haben: „Mama, hilf mir.“

Shari kommt nicht mehr nach Hause. „Wenn ein Kind ein, zwei Stunden verschwunden ist, gibt es immer noch Hoffnung, es zu finden“, sagt Hans-Dieter Hilken. Der damalige Kriminaloberrat beim Polizeipräsidium Koblenz weiß aber auch: „Je mehr Zeit vergeht, um so schwieriger ist es.“ Die Suche nach dem Mädchen wird von Hunden unterstützt, bleibt aber erfolglos.

Am 11. Juni gegen 21 Uhr gehen bei der Polizei in Kruft drei anonyme Anrufe mit Hinweis auf die Fundstelle von Shari ein. Sie soll am roten Turm nahe dem Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich liegen. Hans-Dieter Hilken fährt mit raus, wie immer bei einem schweren Verbrechen. Doch was er an diesem Abend sieht, möchte er heute nicht mehr in Worte fassen. Seine Gefühle sind kurz beschrieben: „Wut und Ohnmacht.“ Die Sechsjährige wurde missbraucht, gequält, ermordet.

Es musste jemand aus der Region sein

Das Opfer ist gefunden, Spuren sind gesichert. Jetzt sucht eine 50-köpfige Sonderkommission den Täter. „Alle waren hoch motiviert und engagiert.“ Das Band mit der anonymen Stimme läuft mehrmals am Tag im Radio, doch Hilken hört es noch intensiver an der Seite von Hermann Künzel, der die Abteilung Sprecherkennung beim Bundeskriminalamt aufgebaut hat. Jetzt will der Experte sich ein Bild von Sharis mutmaßlichem Mörder machen. Im Kämmerlein, ungestört von allem, spielt er die Anrufe immer wieder ab, zerlegt regelrecht jeden Satz. „Seine Analyse ergab, dass es jemand aus der Region sein musste.“ Er wird richtig liegen.

Die Telefonaktion mit der Stimme des Täters bringt 3000 Anrufe, jeder einzelne muss überprüft werden. Von mehr als 20 Personen werden Fingerabdrücke und Stimmproben genommen – ohne Erfolg. Tage vergehen.

Hans-Dieter Hilken hat in seiner mehr als 40-jährigen Berufslaufbahn brutale Dinge gesehen und erlebt, im Rückblick aber bleibt er sachlich: „Bei Kapitalverbrechen gibt es keinen Stellenwert, alle werden intensiv bearbeitet.“ Und doch setzt die Ermordung von Shari bei ihm neue Dimensionen: „Der Fall ist mir auch nach 25 Jahren in Erinnerung, weil er besonders schlimm war.“ Er ergänzt: „Die Bilder sind verblasst, aber die Stimme des Täters ist noch heute präsent.“ Und holt ihn immer wieder ein. Das Gesamtgeschehen beschreibt der 72-Jährige mit wenigen Worten: „Die Tat, die intensive Fahndung unter Einbindung der Bevölkerung, die Festnahme, die Vorgeschichte des Täters, seine schnelle Verurteilung.“ Eine Zeitspanne zwischen dem 10. Juni und 16. Dezember 1992.

Die Realität ist brutaler, als Worte es ausdrücken können. „Bei allen Verbrechen nimmt man was mit nach Hause“, sagt Hans-Dieter Hilken. Diesmal ist das Päckchen besonders groß. Der damals 47-Jährige spricht mit seiner Frau – „aber nur über das, was sie wissen durfte“. Das hilft zumindest ein wenig.

Nach einem Hinweis aus der Bevölkerung wird K. am 17. Juni gefasst und ist geständig. Hans-Dieter Hilken erinnert sich: „Mit dem Zeitpunkt, als relativ sicher war, dass wir den Täter hatten, da habe ich eine Art von Erleichterung gespürt. In diesem Augenblick fällt einiges ab.“ In den nächsten Tagen wird der Fall mit den Kolleginnen und Kollegen aufgearbeitet. Hilken weiß um die Belastung für das gesamte Team: „Die Anspannung war groß, wir haben alles gegeben. Ja, da bin ich zufrieden nach Hause gegangen.“ Zufrieden, was immer das in einer solchen Situation heißen kann.

Kontakt zu K. hatte Hilken nicht. Seine Gefühle beschreibt er so: „Es war Wut.“ Umgehend folgt der Nachsatz: „Aber es musste eine kontrollierte Angelegenheit sein, alles andere wäre gefährlich gewesen.“ Entscheidend: „Der Täter hat seine Strafe bekommen und konnte nach seiner Verurteilung nichts mehr anrichten.“

Es gibt „zehn bis zwölf Verfahren“, die für den Generalstaatsanwalt a.D. Norbert Weise „dauerhaft präsent“ sind und vermutlich immer bleiben werden. An vorderster Stelle stehen zwei fast zeitgleiche Verbrechen an Kindern – die Ermordung von Shari in Weißenthurm und eines kleinen Mädchens aus dem Westerwald, das in einem Koffer gefunden wurde. „Schrecklich“, sagt Weise mit leiser Stimme und schüttelt den Kopf. Ein Wort genügt, um seine Erinnerung an die unfassbaren Geschehen noch näher zu bringen als gewohnt, um Details wach zu rufen und auch das eigene Handeln.

Der heute 73-Jährige ist im Ruhestand so geblieben, wie er acht Jahre als Leitender Oberstaatsanwalt und acht Jahre als Generalstaatsanwalt gewesen ist. „Ich bin ein Typ, der Emotionen hat, sie aber nicht nach außen kommen lässt.“ Bei den Ermittlungen gegen den Mörder von Shari kann und muss Weise das mehrfach zeigen – oder eben verbergen. Erfahrung und Disziplin helfen dabei, vor allem aber das Wissen: „Ich muss mir in einer solchen Situation der Gefahr bewusst sein, nicht objektiv zu handeln, und deswegen muss ich gegensteuern.“

Nicht immer einfach, erinnert er sich 25 Jahre später. Unvergessen ist der Blick in die Akten, der schockierende Bilder und Fakten offenbart. „Da geht man nach Hause und nimmt einiges mit, beschäftigt sich mit dem Gesehenen.“ Reden hilft weiter – aber immer nur allgemeines Reden, nie fallbezogenes. Das trägt Weise allein.

Nach Sharis Ermordung ist die Betroffenheit in der Bevölkerung groß. Mit K. ist der Täter nach wenigen Tagen gefunden, deshalb verspürt Norbert Weise bei den weiteren Ermittlungen keinen Druck. Und als ein Sachverständiger bestätigt, dass die Stimme des anonymen Anrufers und die des festgenommenen Tatverdächtigen identisch sind und für den Experten deshalb zweifelsfrei feststeht: „Er ist es“, da empfindet Weise „ein Gefühl der Erleichterung“. Das tut gut in einer schwierigen Situation.

Dem Leitenden Oberstaatsanwalt ist es wichtig, dass die Ermittlungen schnell abgeschlossen werden und der Prozess gegen K. bald beginnen kann. „Es war dem öffentlichen Interesse geschuldet. Und die Justiz musste zeigen, dass sie in solchen Fällen sofort reagiert.“ Im Prozess ist der Täter geständig, leugnet allerdings, dass seine Tat geplant war. Das Gericht kommt zu einer anderen Überzeugung.

25 Jahre später, längst im Ruhestand, verfolgt Norbert Weise noch immer interessante Gerichtsverhandlungen und fragt sich hin und wieder: „Wie würdest du entscheiden?“ Da kennt der 73-Jährige nur eine Antwort, die für ihn von je her galt: „Wir müssen uns um die Belange der Opfer kümmern. Die Angehörigen sollen erkennen: Die Gesellschaft ist solidarisch.“ Am 3. Dezember 1992 beginnt der Prozess vor dem Schwurgericht Koblenz. Der Vorsitzende Richter, heute 87 Jahre alt, erinnert sich, möchte sich aber nicht mehr äußern. „Es ist alles gesagt.“ Gemeint ist der Prozess: Die Tat geschildert, der Angeklagte vernommen, das Urteil gesprochen. Das geschieht am 16. Dezember 1992: lebenslänglich. 25 Jahre Haft aufgrund der Schwere der Schuld.

25 Jahre später befürchtet der Richter, dass mit dem Rückblick alte Wunden aufgerissen werden könnten. Wohl kaum, denn durch die Wunden geht bis heute ein tiefer Riss. Er scheint nicht viel kleiner geworden, und er wird bleiben. Bei der Familie vor allem, aber auch bei jenen Menschen, die sich aufgrund ihres Berufes mit dem Tod von Shari befassen mussten.

Emotionen sind dem Vorsitzenden Richter nicht zu entlocken, da ist er noch immer ganz in Amt und Würde, mit festem Blick auf Recht und Gesetz. Er weiß natürlich um die Schwere der Tat und um das Leiden des Kindes und seiner Familie. „Aber der Täter wurde verurteilt, und er hat seine Strafe verbüßt.“ Was der Richter anfügt, mag vielen nicht gefallen, doch auch da geht er geradlinig weiter: „Der Täter hat Anspruch, resozialisiert zu werden. Ich wünsche, dass er es schafft, in die menschliche Gemeinschaft zurückzukehren.“ Diese Möglichkeit dürfe ihm nicht genommen werden. Irina Weber ist seit zehn Jahren wieder verheiratet, wohnt nicht mehr in Weißenthurm. In dunklen Stunden, und davon gibt es nach wie vor viele, findet sie Unterstützung, Verständnis und Hilfe bei ihrem Mann. Er hat die Veränderung seiner Frau miterlebt. „Ja, ich beiße inzwischen“, meint sie und lächelt. „Ich sage, was ich denke. Ich kann aber auch einstecken.“ Muss sie.

Sharis Grab hat die Mutter nach ihrem Umzug nur selten besucht. Um so mehr ist Irina Weber geschockt, als vor vier Jahren die Grabstätte nicht mehr da ist. Die zuständige Verbandsgemeinde Weißenthurm hat sie nach Ende der 20-jährigen Ruhezeit und einer öffentlichen Bekanntmachung sowie einer Markierung am Grab räumen lassen. Nach der Friedhofssatzung rechtens. Aber es sei unglücklich gelaufen, sagt Stadtbürgermeister Gerd Heim. Er macht sich deshalb dafür stark, eine Stele oder einen Gedenkstein mit neutraler Inschrift zu errichten – für Shari und für alle missbrauchten und ermordeten Kinder. Die Fraktionen im Stadtrat stimmen dem Vorschlag zu.

Vier Jahre sind seither vergangen. Das Vorhaben hat den Stadtbürgermeister nie ruhen lassen, sagt er. Ein Standort für die geplante Stele ist gefunden, Mittel stehen bereit. Im Bauausschuss stimmen vor einigen Tagen alle Fraktionen für eine Stele. In zwei Monaten, hofft Heim, wird sie stehen. Eine Inschrift soll an Kinder und Opfer von Gewaltverbrechen erinnern: „Nie vergessen.“

Gerd Heim handelt nicht nur als Verwaltungschef, die geplante Gedenkstätte ist ihm persönlich ein Anliegen. In der Kettiger Straße, also an Sharis Heimweg vom Kindergarten, ist seine Firma ansässig. „Die Kinder sind jeden Tag vorbeigegangen und bei unserem Hund stehen geblieben, auch Shari. Sie war ein liebes, aufgewecktes Mädchen“, erinnert er sich. Es sei schon schlimm gewesen, vom Verschwinden der Sechsjährigen zu hören. „Und als dann die Nachricht von ihrer Ermordung kam ...“ Die Errichtung einer Gedenkstätte hat Gerd Heim Sharis Mutter vor vier Jahren versprochen, dazu steht der Stadtbürgermeister von Weißenthurm. Für Irina Weber ist ein solches Zeichen wichtig – ein Gedenken an alle Kinder, denen Gewalt widerfuhr. So wie Shari. Vor 25 Jahren. Die Zeit heilt keine Wunden.

Gabi Novak-Oster begleitete als Redakteurin vor 25 Jahren die Ermittlungen der Polizei im Mordfall Shari Weber. Für diese herausragende Leistung erhielt sie den Theodor-Wolff-Preis.

Die Originalreportage von 1992 können Sie HIER lesen.

„Wir müssen das Restrisiko mindern“

K. lebte „auf Bewährung“. Mit 15 Jahren hatte er wegen versuchtem Mord und sexuellem Missbrauch erstmals vor einem Richter gestanden. Das Urteil: dreieinhalb Jahre Jugendstrafe. Aufgrund guter Führung und einer positiven Sozialprognose wurde die Haft in der JVA Wittlich verkürzt und zur Bewährung ausgesetzt.

Nach dem Vorwurf eines versuchten Sexualdelikts an zwei neunjährigen Mädchen verlängerte der Richter die Bewährungszeit bis Ende 1992. Damit verbundene Auflagen, unter anderem eine Sexualtherapie, hielt K. nicht ein.

Musste Shari deswegen am 10. Juni 1992 sterben? War jemand mitverantwortlich? Justizminister und Oberlandesgerichtspräsident machten den Schuldigen schnell aus und setzten ein Vorermittlungsverfahren gegen den Bewährungshelfer von K. in Gang. Zu einem Verfahren kam es allerdings nicht, der Bewährungshelfer wurde abgemahnt. Dagegen klagte er, vergeblich. Seine Konsequenz: Er kündigte.

Der heute 71-Jährige möchte anonym bleiben. Der grauhaarige Mann drückt sich vorsichtig aus, wirkt äußerlich ruhig und sachlich in seinem Rückblick, lässt jedoch eine innere Anspannung vermuten. Er lächelt hin und wieder zweideutig, wenn er auf seine Vorgesetzten zu sprechen kommt. Er klagt nicht an, aber er beschönigt auch nicht. Er ahnte damals, dass Fragen auf ihn zukommen, nur die nach der Belastung stellte keiner. „Hätten Sie überwacht ...“ wurde ihm vorgeworfen. Er empfand das als „unfair“. Dennoch hinterfragte er sein Verhalten: „Hätte ich dies oder das anders gemacht?“ Eine Antwort darauf gab es nicht. Nur eine Gegenfrage: Wie bei Voraussetzungen, unter denen weder Hilfe noch Kontrolle so sein konnten, wie sie hätten sein müssen?

Man wollte einen Sündenbock haben

Die Dienststelle Koblenz der Bewährungshilfe ist flächenmäßig die größte in Rheinland-Pfalz und liegt sogar auf Bundesebene weit vorn. Günter Stendebach (63), vor 25 Jahren Sprecher auf Landesebene und heute der Koblenzer Stelle, erinnert sich an sein Entsetzen über den Mord an Shari. Aber auch über seine Wut im Bauch, weil dem für K. zuständigen Bewährungshelfer vom Dienstvorgesetzten keine positive Grundhaltung entgegengebracht wurde. Der Kollege habe nichts falsch gemacht, „aber man wollte von vornherein einen Sündenbock haben. Es musste jemand gefunden werden, der Schuld hat.“

Die Zahl der Therapeuten für Sexualstraftäter hat sich seit 1992 verbessert, sagt Stendebach, außerdem das Angebot für deren Fortbildung. Und auch die Zusammenarbeit von Bewährungshilfe und Polizei ist auf einem sehr guten Weg. Nicht zuletzt: Mit 36 Frauen und Männern registriert die Dienststelle Koblenz heute einen „Rekordstand“ an Bewährungshelfern, gleichwohl: „Die Belastungszahlen sind nicht geringer geworden.“ Das sagt selbst ohne konkrete Zahlen alles. Günter Stendebach ist seit 1979 Bewährungshelfer, engagiert und reich an Erfahrung. Er weiß: „Wir können noch so gut ausgestattet sein, die Straftaten werden bleiben.“ Deshalb kann es bei allem Einsatz nur ein Ziel geben: „Wir müssen das Restrisiko mindern.“
Der Bewährungshelfer von K. war für 49 Probanden zuständig – bei einer Halbtagsstelle. Ein Kollege, der K. zuvor betreut hatte, verunglückte durch einen Herzinfarkt. „Im selben Jahr haben wir ihn beerdigt. Er machte sich noch Vorwürfe, K. an mich vermittelt zu haben.“ Straftäter wie K. sind schwierig. „Zwei Mörder gegen einen Sexualstraftäter, hieß es unter uns Bewährungshelfern.“ Soll sagen: Bei Mördern ist die Wiederholungsgefahr geringer ...

Zu den Eltern von K. hatte der Bewährungshelfer einen guten Kontakt. Der Sohn gab sich weniger kooperativ, war schwierig, unzuverlässig, lax mit dem Einhalten der Auflagen, nahm Therapeuten-Termine nicht wahr. Und er missbrauchte und ermordete Shari – ein halbes Jahr vor Ende der Bewährungszeit. „Ich war entsetzt“, erinnert sich sein Bewährungshelfer. Später las er die Akte. „Das war schon heftig.“ Er hält inne. Die Zeit vor 25 Jahren sitzt noch tief. Lebenslänglich.

Die Schwere der Schuld festgestellt

25 Jahre Freiheitsstrafe mindestens bedeutet das Urteil „lebenslänglich“, wenn der Richter eine besondere Schwere der Schuld feststellt, so bei K. nach dem Mord an Shari. Ein Sprecher des Justizministeriums bestätigt, dass der heute 48-Jährige noch in der Justizvollzugsanstalt Diez einsitzt.

Da er 1992 verhaftet und verurteilt wurde, könnte sein „lebenslänglich“ dieses Jahr beendet sein. Ob K. einen Antrag auf Freilassung gestellt hat, darf das Ministerium in Hinblick auf das „schutzwürdige private Interesse des Verurteilten“ nicht mitteilen.

Die Rechtslage allgemein: Bei der Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld kann der Verurteilte nach Ablauf der Mindestverbüßungszeit jederzeit einen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung stellen. Im Fall einer Ablehnung kann das Gericht eine Frist von höchstens zwei Jahren festsetzen, vor deren Ablauf ein erneuter Antrag unzulässig ist. Wenn die Vollstreckung des Restes einer lebenslangen Freiheitsstrafe vom Gericht zur Bewährung ausgesetzt wird, beträgt die Bewährungszeit fünf Jahre. Eine Kontaktaufnahme unserer Zeitung zu K. scheitert. Josef Maldener, Leiter der JVA Diez, überbringt nur die Nachricht, dass K. „nicht einverstanden ist, wenn Auskünfte über ihn erteilt werden“.

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