Abpiff Fußball, Anpfiff Leben
Früher auf dem Fußballplatz, jetzt im Klassenzimmer der Gesamtschule in Borgholzhausen (NRW): Tobias Rau. Was wird aus Profifußballern nach ihrem Karriereende? So mancher stellt sich diese Frage zu spät.
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Ein Bild aus den guten Zeiten als Fußballer: Tobias Rau war für den FC Bayern München am Ball.
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Der ehemalige Fußballprofi Christian Mikolajczak arbeitet jetzt in Oberhausen bei der Feuerwehr.
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Philipp Lahm gehörte zu den Profis, die feierlich von den Fans verabschiedet wurden.
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Der ehemalige Fußballprofi Carsten Ramelow ist jetzt ein Geschäftsmann.
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Das alte Leben von Tobias Rau ist in Borgholzhausen sehr weit weg. Der blonde Sport- und Biolehrer spielte früher beim FC Bayern München und für die deutsche Fußballnationalmannschaft. Sein neues Leben heißt Unterricht. Erfahrungen, etwa mit Ex-Trainer Felix Magath (64), berüchtigt als Schleifer, helfen ihm wenig, wenn er vor der zwölften Klasse steht. Und zum Beispiel in Bio etwas über Pränataldiagnostik vermitteln möchte, also über Untersuchungen an Föten und Schwangeren.
Um in dieses Thema einzusteigen, hat Rau sich überlegt, zeigt er einen Ausschnitt aus „Gattaca“, einem US-Science-Fiction-Film über Genmanipulationen. Sein Ziel ist es, nah an die Schüler ranzukommen, um sie zu motivieren. „Das kann man richtig spüren, wenn die Gedanken durch den Raum fliegen“, sagt er. Und: „Die wichtigsten Sachen, die für mich hier zählen, sind nicht aus der Fußballwelt.“
Rau, 35 und verheiratet, ist Referendar an einer Gesamtschule in Borgholzhausen bei Bielefeld. Ende September hat er seine Lehrerausbildung abgeschlossen. 2009 beendete Rau mit 27 Jahren, und damit ungewöhnlich jung, seine Fußballerkarriere. Wegen vieler Verletzungen, aber nicht nur. Er hätte noch gekonnt. Doch ihm schien es nicht zu spät, um zu studieren und Lehrer zu werden. Das Abi hatte er. Jetzt wollte der Sportler ein neues Leben, deshalb verabschiedete er sich vom alten.
„Ich hätte mir niemals vorstellen können, in dem Geschäft auch nach der Karriere zu arbeiten“, sagt er. Auf Menschlichkeit legt er Wert, und die hat er in der Bundesliga nicht entdeckt. Heute ist seine Arbeit zwar nicht mehr so aufregend, sagt er: Statt vor Zehntausenden Zuschauern steht er vor der Klasse. Doch sein Lehrerleben sei spaßiger und angenehmer.
„Im Fußball steht der Erfolg über allem“, sagt Rau. „Man muss funktionieren, es wird über Leichen gegangen. Hier in der Schule ist es einfach ein totales Miteinander, und man hilft sich gegenseitig.“
Fußballprofi und dann? Fans wollen wissen, was aus dem Idol von früher geworden ist. Manche fragen sich, nicht ohne Voyeurismus, was ein Sportstar aus Geld und Ruhm gemacht hat. Konnte der noch etwas anderes außer Fußballspielen? Geschichten über Ex-Kicker kursieren viele.
Auch diesen Sommer beendeten wieder Spieler ihre Karriere. Wie Weltmeister Philipp Lahm (33) machen manche das freiwillig. Andere zögern, selbst wenn sie keinen Verein mehr haben. Sie hoffen auf einen nächsten Vertrag. Von ihnen halten sich einige in einem von der Fußballergewerkschaft VdV organisierten Camp für Profis ohne Verein fit. Nein, nicht in dem bekannteren Camp, in der RTL-Sendung „Dschungelcamp“, in der schon Ex-Spieler mitwirkten.
Früher oder später kommt aber für alle der sportliche Abpfiff. Mit Mitte 30 gelten Profis meist als alt und müssen eine neue Rolle im Leben finden. Rennen, schießen, grätschen, darin sind sie dann zu langsam. Wenn ihr Körper den Hochleistungssport überhaupt so lange mitgemacht hat. Einige Ex-Spieler finden im engen Fußballumfeld eine Aufgabe als Trainer und Manager. Oder als TV-Experte wie Torwart Oliver Kahn (48). Doch für viele geht das Flutlicht ganz aus.
Es ist ein Bruch in der Biografie. Ein Neubeginn, wie andere Menschen ihn kennen nach einer Krankheit, einem Unfall oder bei plötzlicher Arbeitslosigkeit. Der Job stiftet Identität, heißt es. Erfolge formen das Selbstbild mit. Auch bei vielen Profispielern. Meistertrainer Ottmar Hitzfeld (68) hat jedoch schon vor Jahren mal mit kritischem Unterton gesagt: „Sie glauben, sich als Fußballer eine Stellung in der Gesellschaft erarbeitet zu haben, aber das stimmt nicht.“
Die Geschichte des frühen Fußballausstiegs von Tobias Rau ist keine ganz typische. Er besaß eine klare Idee seiner neuen Rolle. Die von Carsten Ramelow scheint typischer. Er spielte, so lange er konnte. Das Karriereende vergleicht er mit einem Kinobesuch: „Der Film ist aus, und du kommst raus aus dem Kino. Keiner erkennt dich mehr“, sagt Ramelow. In seinem neuen Leben ist er Geschäftsmann und steht nur noch selten im Fokus.
Der Ex-Mittelfeldspieler hat heute ein Büro in Hürth, einem Vorort von Köln. Ramelow, 43, anthrazitfarbenes Langarmshirt, dunkelblaue Jeans, sucht und hält Augenkontakt, wenn er Gästen die Hand reicht.
An seine Fußballzeit erinnert in dem hellen Büro nur wenig. Auf dem Hof vor dem Gebäude rauscht ein künstlicher Wasserfall. Auf Ramelows Schreibtisch liegen zwei Stapel Visitenkarten, die von Küchengummis zusammengehalten werden.
Carsten Ramelow ist Teilhaber mehrerer Eventfirmen, die hier sitzen. Er kümmert sich um Strategie und Personalführung, sagt er. Zudem vermittelt er an Unternehmen Leuchtwerbung für Flughäfen und Einkaufszentren. Und über das Unternehmen Booker verkauft Ramelow VIP-Karten für Konzerte und Sportveranstaltungen. In der Lanxess Arena in Köln und in der Münchner Allianz Arena vermarktet sie Logen. Manchmal begleitet Ramelow Kunden zu Events.
„Wenn die Leute fußballinteressiert sind, und da ist der alte Hase dabei, der ein bisschen was erzählen kann, dann ist das für beide Seiten eine ganz nette Atmosphäre“, sagt Ramelow. Zu erzählen hat er einiges. Er spielte in der Bundesliga für Bayer Leverkusen und auch in der Nationalelf. In der Statistik stehen 333 Erstligapartien, 46 Einsätze für Deutschland und 8 zweite Plätze in wichtigen Wettbewerben. Aber kein großer Titel.
Seine Spielerkarriere ging 2008 zu Ende. Bundesliga konnte der Körper nicht mehr. Einen ausgereiften Plan, wie es weitergehen sollte, hatte er nicht. Leverkusen gab ihm zwar einen vierjährigen Anschlussvertrag für das Leben nach dem Spiel, aber kaum Aufgaben. Mehr als ein Jahrzehnt hatte er bei Bayer gespielt, war sogar Kapitän gewesen. Doch konkrete Gespräche über Ziele für danach habe es nicht gegeben. Das ist häufig so: Die Gewerkschaft VdV fordert deshalb von den Profiklubs, ihrer Fürsorgepflicht in dem Bereich stärker nachzukommen.
Ramelow – beim Abschied mit Mitte 30, hatte seine Mittlere Reife in Berlin gemacht, die Polizistenausbildung danach abgebrochen – schaute sich also um. Geldsorgen plagten ihn zwar keine, aber Mitanpacken mache ihm Spaß. Kontakt zu Booker besaß er schon, probierte sich dort aus und stieg ein.
Wer zehn Jahre in der Ersten Bundesliga gespielt hat, dürfte mindestens einen mittleren einstelligen Millionenbetrag verdient haben, rechnet Sportmanagementprofessor Dirk Mazurkiewicz von der Hochschule Koblenz vor. Nationalspieler können viel mehr einstreichen.
In der Saison 2015/16 gaben nach Zahlen der Deutschen Fußball Liga DFL die 18 Klubs der Ersten Liga rund 1,06 Milliarden Euro für Spieler- und Trainergehälter aus. In der Zweiten Liga betrug der Posten 202,6 Millionen Euro. Die Summen haben sich in den vergangenen zehn Jahren etwa verdoppelt. Bei den 36 Klubs stehen jährlich insgesamt rund 1000 Spieler unter Vertrag.
Was aus denen wird, die aufhören (müssen), ist sehr unterschiedlich. „Je länger diese Menschen in der Branche waren, desto eher wollen sie auch ein Teil davon bleiben“, erläutert Mazurkiewicz. „Damit provozieren sie aber ein Problem: Das kann rechnerisch gar nicht klappen, weil es ein Vielfaches weniger solcher Arbeitsplätze als Ex-Profis gibt.“ Nach einer Untersuchung, die Mazurkiewicz mit der VdV erstellt hat, bereiten sich zwei Drittel der Spieler nicht zielgerichtet auf einen Job nach der Karriere vor.
Das ist vor allem schlecht für Spieler, die nicht ausgesorgt haben. Wie Christian Mikolajczak. Er spielte als junger Mann mit Tobias Rau in der Juniorennationalmannschaft. Bei einer Junioren-WM kämpfte er mit dem späteren brasilianischen Weltstar Kaka um den Ball. Da waren die fetten Jahre für ihn fast schon wieder vorbei.
„Micky“ wäre 2001 in seinem ersten Profijahr fast mit dem FC Schalke 04 Deutscher Meister geworden. Den Pokalsieg holte er mit dem Team, zu dem Spieler wie Andreas Möller gehörten. Aber wer Fußballfans im Bekanntenkreis fragt, ob sie Christian Mikolajczak kennen, erntet oft Stirnrunzeln.
Dabei sind Fußballernamen teils auch Marken, sie lösen ein Gefühl von Kennen aus. Manchmal Grinsen, eine Erinnerung. Aber Christian Mikolajczak ist nicht so ein Name, obwohl er länger als Rau im Geschäft war. Nach seinem ersten Profijahr bei Schalke ging er unter anderem zu den Provinzklubs von Ahlen in Westfalen, Aue im Erzgebirge, nach Kiel und Spiesen-Elversberg. Das liegt im Saarland.
Seine Reise endete mit 30. Neue Verträge kamen nicht mehr. Ab diesem Moment machte er sich Gedanken über seine Zukunft.
Wenn er heute mit der neuen Arbeit anfängt, klatscht es. Denn bei der Feuerwehr Oberhausen begrüßen sich die Kollegen zu Beginn ihrer 24-Stunden-Schicht so, wie es Fußballer oft tun: Mit der vollen Hand kräftig zupacken, die Daumen zeigen dabei nach oben. Wie Kumpel eben.
Mikolajczak, 36, ledig, ist wieder in der Heimat. Aus dem Ruhrgebiet kommt er, in Essen wuchs er auf. Nicht nur das Begrüßungsritual auf der Wache erinnert an sein altes Leben: In der Umkleidekabine hat er einen Spind, in dem die blau-neongelbe Arbeitskleidung hängt. Wie im Fußballteam tragen alle Kollegen die gleichen Farben. Auf einer Magnettafel zeigen Plättchen, wer welche Position hat. Beim ersten Rettungswagen steht: Fahrzeugführer: Kopanka, Fahrer: Mikolajczak. Einlaufmusik gibt es nicht, nur die Sirene.
Er findet, dass sein altes und sein neues Leben sich ähneln: „Im Endeffekt ist man auch in einem Team zusammen. Man trainiert verschiedene Szenarien, und wenn man raus geht, muss man funktionieren.“
Nach dem Ende der Fußballerzeit solle man herausfinden, woran man sonst noch Spaß hat, sagt er. Freunde hätten ihm von der Feuerwehr erzählt. Ihm gefiel, was er hörte. Christian Mikolajczak machte eine Ausbildung zum Rettungsassistenten, dann die zum Brandmeister. Nächster Schritt soll sein, Beamter auf Lebenszeit zu werden.
„Ich habe einen sicheren Job, und ich habe ein geregeltes Leben. Ich lebe nicht mehr aus dem Koffer“, lobt Mikolajczak. Und: „Als Fußballer bekommt man vielleicht mal negative Schlagzeilen, aber das hier ist das wahre Leben.“ Leben anderer zu retten, das gehört nun zum Job.
Trotzdem, die Zeit als Fußballprofi war für ihn wie ein Traum, wie eine Reise in eine andere Welt. Sein Vater arbeitete auf dem Bau. Von dem schweren Schreibtisch im Büro von Schalke-Manager Rudi Assauer (73), wo Mikolajczak den ersten Profivertrag unterschrieb, erzählt er heute noch: „Da hätten wir mit der ganzen Familie essen können.“
Wenn der junge Lehrer Rau über sein altes Leben berichtet, klingt das nicht so vergnügt wie die Erzählungen von Mikolajczak. Im Fußball sei immer Druck gewesen, sagt Rau. Von den Fans, den Medien, den Managern, dem Trainer – und den Mitspielern. Nur mit einem ehemaligen Kollegen habe er noch regelmäßig Kontakt.
Und doch: Er denke gern an die Zeit zurück. Mit Freunden schaut er Länderspiele im Fernsehen, trägt dann manchmal sein Trikot von damals und erzählt von den Ex-Mitspielern. Auch kickt er bei Ehemaligenspielen oder tritt als Gast in Fußballsendungen auf.
Bei Raus sieben Einsätzen für Deutschland war Carsten Ramelow Stammspieler der Nationalmannschaft. Er lebt heute mit seiner Frau und den zwei Kindern im Bergischen Land, züchtet auch Bienen und hält Hühner. Gern trifft er sich mit den benachbarten Bauern. Seine Familie sei das Wichtigste. „Das normale Leben liebe ich“, sagt er.
Fußball ist heute für ihn eine angenehme Nebensache. Im Leben, im alten und im neuen, geht es ihm darum, schöne Momente zu sammeln. Als einen solchen bezeichnet er den Mannschaftsgeist während der Weltmeisterschaft 2002, als Deutschland als Außenseiter bis ins Finale im japanischen Yokohama kam. „Diesen Zusammenhalt hast du richtig gespürt“, sagt Ramelow.
In seinem Büro in Hürth hängen im Flur zwei Fotos von damals. Eines zeigt ihn als Kapitän von Bayer Leverkusen, eines bei der WM 2002. Er sagt: Das Schönste und Beste, was man konnte, sei das Fußballspielen gewesen. „Alles, was man danach macht, wird nie so sein, wie auf dem Platz zu stehen.“
Nikolai Huland