Wahlzeit Hintergrund: Auslandseinsätze – Dreimal Afghanistan und zurück

Der Militärbus wird abrupt ausgebremst. Daniel Lücking schleudert es in seinem Sitz nach vorn. Soldaten reißen die Türen auf, schreien ihm Worte entgegen, die er nicht versteht. Ein Kamerad wird nach draußen gezerrt und verprügelt.

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Von unserem Redakteur Dirk Eberz

„Dann hörte ich einen Schuss“, sagt Lücking. Ihm werden die Augen verbunden. Dann legt er die Hände in den Nacken. „Da hat man schon ordentlich Angst“, erinnert er sich. Die Soldaten schubsen ihn herum, führen ihn in ein Gebäude. Er wird unsanft eine Kellertreppe hinuntergestoßen. Völlige Dunkelheit. Einige Zeit verbringt er in einer Zwangshaltung – eine Tortur. Später soll er vor einer Kamera sein Vaterland verleugnen. Daniel Lücking gehorcht. „Man muss kooperieren. Sonst setzt man sich großen Gefahren aus.“

Training für den Ernstfall

An diesem Tag ist es zum Glück nur eine Übung. Niemand kommt zu Schaden. Proben für den Ernstfall. Die Entführer sind verkleidete Spezialisten der Bundeswehr. Das korrekte Verhalten bei Geiselnahmen ist eine der Ausbildungseinheiten, mit der deutsche Soldaten auf Auslandseinsätze vorbereitet werden. „Das setzt einem zu“, sagt Lücking. „Wer sich darauf einlässt, kommt da zitternd wieder raus.“ Später geht's ins Minenfeld. „Da haben wir im Sand gestochert, um die Sprengsätze zu finden.“ Auch Anschläge werden simuliert. Die Soldaten sollen lernen, in Extremsituationen nicht die Nerven zu verlieren. „Die Ausbildung ist sehr hochwertig“, sagt Lücking. „Wir wurden top vorbereitet.“

Einige Wochen später geht's ins mazedonische Tetovo, das damals mehrheitlich von Albanern bewohnt ist. Nur wenige Kilometer weiter liegt der Kosovo. Lücking schreibt sein Testament – mit 21 Jahren. „Das machen fast alle, die auf Auslandseinsätze gehen“, sagt er. Nicht ohne Grund. Bis heute sind 26 deutsche Soldaten nicht mehr lebend aus einem Kosovo-Einsatz zurückgekehrt.

Als Lücking im Herbst 2000 auf dem Balkan landet, findet er ein zerschundenes Land vor. „Überall waren zerbombte Häuser, am Straßenrand standen Kreuze.“ Was sich hier abspielt, ist keine Simulation mehr. Über den jungen Soldaten donnern mazedonische Kampfhubschrauber hinweg, die ihre Raketen auf eine Stellung der albanischen Freischärler abfeuern. „Das war echtes Kriegsszenario“, sagt Lücking. Nicht immer ist dem jungen Tanklastwagenfahrer klar, wer hier genau gegen wen kämpft. Das alte Jugoslawien ist längst zerfallen. Serben, Kroaten, Slowenen, Bosnier, Mazedonier und Kosovaren wollen nichts mehr miteinander zu tun haben. Auch gegenüber der internationalen KFOR-Truppe, die die Region befrieden soll, sind die Menschen feindselig: Irgendwann schlägt eine Rakete im Lager ein, von dem aus die Soldaten im Kosovo versorgt werden. Als die Lage eskaliert, wird das Logistikzentrum in großer Eile abgebaut.

Dennoch erscheint Lücking sein erster Auslandseinsatz sinnvoll. „Es wurden ja neue Straßen gebaut.“ Irgendwann bekommen die KFOR-Truppen die Lage in den Griff. „Die Parteien gingen nicht mehr aufeinander los.“ Es ist der Moment, in dem der junge Mann entscheidet, Berufssoldat zu werden.

Knapp fünf Jahre später sitzt er erneut in einer Militärmaschine. Diesmal geht's als Reporter nach Afghanistan. In Kundus leitet er einen Radiosender. Das Rüstzeug dazu erhält er unter anderem bei Radio Andernach. Zuvor hat er sich intensiv mit der Kultur des Landes beschäftigt. „Ich bin mit viel angelesenem Wissen runter“, erklärt er. Deshalb weiß er, dass die Region im Norden ruhig ist. Die Deutschen genießen einen guten Ruf. Gern erinnert er sich an die Liveübertragung eines Fußballspiels, an die Freude der Menschen. Noch kann sich der Journalist problemlos unter die Menschen wagen.

1. Februar 2006 wird zur Zäsur

Dann kommt der 1. Februar 2006. Lücking erinnert sich genau. An diesem Tag schlagen die Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitung „Jyllands-Posten“ mit einiger Verspätung in Kundus ein – dafür aber mit ungeheurer Wucht. „Ich weiß immer noch nicht, wie eine Zeitung so einen Mist veröffentlichen kann“, ärgert sich der heute 34-Jährige. Mit Schrecken verfolgt er im Fernsehen, wie ein aufgebrachter Mob das Lager einer nahen norwegischen Einheit stürmt. „Erst warfen sie Steine, dann Handgranaten.“ Verzweifelt versucht eine Handvoll Soldaten, die Stellung zu halten. „Sie haben das Tor mit einem alten Auto versperrt.“ Erst Stunden später werden die Norweger von einer schnellen Eingreiftruppe befreit.

Unterdessen ziehen auch in Kundus Hunderttausende empörte Afghanen durch die Straßen. „Das waren keine Wilden, die auf der Straße tobten“, sagt Lücking, dessen Lager sich mitten in der Stadt befindet. Die Deutschen haben sich hinter einer bröckeligen Lehmmauer verschanzt. Ein echter Schutz ist das nicht. Lücking hat zum ersten Mal in seinem Leben Todesangst. Dieser Wintertag wird für ihn eine Zäsur – und für die Bundeswehr. Ende des Monats wird in Kundus der erste Anschlag auf einen deutschen Soldaten verübt. Die Lage wird sich nie wieder beruhigen – bis heute.

Bei Lücking kommen erste Zweifel am Sinn der Mission auf. Dennoch wird er noch zweimal an den Hindukusch zurückkehren. 2008 hat sich die Situation weiter verschärft. „Die Lage war total verfahren und zu einem hohen Grad eskaliert. Es ist immer wieder geschossen worden.“ Bei seinem letzten Einsatz Ende 2008 schlagen auf dem Weg zum Mittagessen mehrere Raketen in seinem Lager in Masar-i-Sharif ein. Alarm wird ausgelöst. „Ich hörte Feuergefechte und Kampfflugzeuge.“

Zunächst schiebt er die Erlebnisse beiseite, nimmt sein Studium in Koblenz auf. Zumindest finanziell haben sich die vier Auslandseinsätze gelohnt. 92,03 Euro (der Tagessatz liegt heute bei 110 Euro) hat er pro Tag zusätzlich zum Sold erhalten – steuerfrei. Dabei ist über die Jahre ein nettes Sümmchen zusammengekommen. „Das ist sicher ein guter Anreiz“, räumt er ein. „Aber der Preis ist hoch.“

Ehe geht in die Brüche

Seine Ehe geht in die Brüche. Die vielen Trennungen haben das Paar voneinander entfremdet. Und dann wird Lücking immer wieder von Depressionen heimgesucht. „Ich wusste zunächst nicht, woher das kommt.“ Auch im Studium kommt er nicht recht voran. Er ist antriebslos, kann sich nicht konzentrieren. Im Juli zieht er die Notbremse, lässt sich ins Bundeswehr-zentralkrankenhaus einliefern. „Ich war so runter, dass ich zum Notdienst gegangen bin.“ Diagnose: Depressionen und vermutlich eine posttraumatische Belastungsstörung. Ein Tabuthema. „Da wird nicht viel drüber geredet.“ Mittlerweile geht es ihm wieder besser. Kürzlich ist er aus der stationären Behandlung entlassen worden. Das Kapitel Bundeswehr hat sich für ihn allerdings für immer erledigt.