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Wahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen: AfD profitiert von geringer Wahl-Bedeutung und Europakritik

Wahl Foto: dpa

Gewinner der achten Direktwahl zum Europäischen Parlament ist in Deutschland zum achten Mal die Union, die SPD legt nach ihrem Rekordtief von 2009 stark zu. Die Grünen verlieren leicht, die Linke bleibt relativ stabil und die FDP erlebt ihren nächsten dramatischen Einbruch.

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Mit Mandaten für Brüssel und Straßburg schafft es erstmals auch die AfD auf eine prominente parlamentarische Bühne, wo nach dem vollständigen Wegfall der Sperrhürde zukünftig auch mehrere kleine deutsche Parteien vertreten sind.

Bei einer erneut mehr bundespolitisch geprägten Europawahl – für 54 Prozent war bei der Stimmabgabe der Bund und nur für 40 Prozent die Europapolitik wichtiger – basiert das Abschneiden von CDU/CSU und SPD zunächst auf großer Zufriedenheit mit der Kabinettsarbeit in Berlin. 2009 ebenfalls als große Koalition auf einer +5/-5-Skala nur bei 0,5, wird die Bundesregierung von den Befragten jetzt mit 1,3 klar positiv bewertet.

Hierbei besitzt speziell die Union einen ganz erheblichen Kompetenzvorsprung in den Bereichen Wirtschaft und Jobs in einer Zeit, in der für 80 Prozent Deutschland ökonomisch besser und nur für vier Prozent schlechter dasteht als unsere westeuropäischen Nachbarländer (kein Unterschied: 14 Prozent). Nicht weniger als 84 Prozent sehen dabei die EU-Mitgliedschaft als (sehr) wichtigen Faktor für die bei uns gute Wirtschaftslage, während gleichzeitig die CDU/CSU bei Euro-Sicherung und Europapolitik allgemein als klar führend gilt.

Neben viel Politikvertrauen verdankt die Union ihren klaren Wahlsieg wie gewohnt auch der älteren Generation, die aufgrund spezifischer Beteiligungsmuster bei der Europawahl besonders viel Gewicht besitzt: Bei insgesamt schwacher Beteiligung noch die wahlfreudigste Gruppe, verliert die CDU/CSU bei den ab 60-Jährigen zwar sechs Prozentpunkte, holt hier aber mit 42 Prozent ihr bestes Ergebnis. Bei den 45- bis 59-Jährigen schafft sie 32, bei den 30- bis 44-Jährigen 35 und bei den unter 30-Jährigen nur 29 Prozent.

Die SPD bleibt bei den unter 30-Jährigen sowie den 30- bis 44-Jährigen mit 21 bzw. 23 Prozent sehr schwach, dagegen liegt sie bei den 45- bis 59-Jährigen mit 29 Prozent relativ knapp hinter der Union. Nach einem starken Plus von 12 Punkten bei den ab 60-Jährigen erreicht die SPD hier 36 Prozent, konnte aber auch insgesamt ihre Anhänger besser als 2009 motivieren, tatsächlich wählen zu gehen.

Neben guter Regierungsarbeit und einem deutlichen Imagegewinn verfügen die Sozialdemokraten dabei mit Martin Schulz über einen Protagonisten, der zumindest in den eigenen Reihen viel Zugkraft entwickelt: So besitzt der Faktor Spitzenkandidat für SPD-Wähler konträr zur Bundestagswahl deutlich mehr Gewicht als im CDU/CSU-Lager und 37 Prozent aller Befragten, aber bemerkenswerte 72 Prozent der SPD-Wähler wollen Martin Schulz als nächsten EU-Kommissionspräsidenten. Gerade 22 Prozent aller Befragten und nur 41 Prozent der CDU/CSU-Anhänger möchten für das Amt den EVP-Kandidaten Jean-Claude Juncker, insgesamt 41 Prozent sind für keinen von beiden bzw. wissen es nicht, meist weil sie die Kandidaten nicht kennen.

Neben wenig Bekanntheit der Kandidaten sind es dann aber vor allem schwaches Interesse, die geringe individuelle Relevanz der transnationalen Ebene und reservierter Pragmatismus, die für die erneut niedrige Wahlbeteiligung verantwortlich sind: Hatten sich im letzten September 67 Prozent stark für die Bundestagswahl interessiert, sind dies nun bei der Europawahl nur 40 Prozent. Während 86 Prozent Bundestagsentscheidungen persönlich für wichtig halten, sind es beim Europaparlament 56 Prozent. Zwar konstatieren 77 Prozent „zu viele Regelungen“ und 70 Prozent „abgehobene und bürgerferne“ Institutionen in der EU, doch grundsätzlich sind die Basiseinstellungen zur EU-Mitgliedschaft oder zum Euro zurzeit ausgesprochen positiv.

Anders die AfD-Wähler, von denen 47 Prozent (alle: 15 Prozent) die EU-Mitgliedschaft negativ sehen sowie 57 Prozent (alle: 35 Prozent) im Euro Nachteile, und weit überproportional viele im Bereich Ausländer und Zuwanderung ein großes Problem. So wählen 60 Prozent die AfD vor allem wegen der Inhalte, 39 Prozent sprechen von einem „Denkzettel“, der durch klassische Nebenwahl-Effekte verstärkt wird: Für 20 Prozent aller Befragten, aber für 45 Prozent der AfD-Wähler ist „die Europawahl so unwichtig, dass man auch mal eine Partei wählen kann, die man ansonsten nicht wählt“ – ein Phänomen, von dem auf dieser Ebene auch die „Sonstigen“ profitieren.

Im Detail ist die AfD bei Männern stärker als bei Frauen (sieben bzw. vier Prozent), zwischen Berufstätigen und Arbeitslosen (jeweils sieben Prozent) gibt es kaum, und zwischen den Altersgruppen nur geringe Unterschiede. Anders die Grünen, die bei unter 60-Jährigen starke 15 Prozent, bei den ab 60-Jährigen aber nur schwache fünf Prozent holen.

Wie gewohnt steigt der Zuspruch zu den Grünen parallel mit dem formalen Bildungsniveau, so dass die Grünen mit 20 Prozent bei Hochschulabsolventen ihr bestes Ergebnis holen. Die Linke ist besonders bei Arbeitslosen mit 21 Prozent stark, zwischen den unter und über 60-Jährigen gibt es kaum Differenzen.

Mit gewohnt schwacher Beteiligung, besonderen Nebenwahl- und Mobilisierungseffekten, kaum Parteien- und Personenwettbewerb, sowie ohne koalitionstaktische Wahlmotive und neuerdings ohne Sperrhürde bleibt die Europawahl ein Unikat. Auch in anderen EU-Ländern mit vielen spezifischen Regeln, Kontextfaktoren und eigenen Ausgangslagen zeigt die Abstimmung politische Vielfalt und Freizügigkeit, was Nicht-Wählen ebenso beinhaltet wie Erfolge ansonsten weniger etablierter Parteien, und wie bei uns kaum Rückschlüsse auf die nationale Ebene ermöglicht.

Die Zahlen basieren auf einer telefonischen Befragung der Forschungsgruppe Wahlen unter 1.273 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in Deutschland in der Woche vor der Wahl sowie auf der Befragung von 41.471 Wählern am Wahltag.

Weitere Informationen finden Sie unter www.forschungsgruppe.de

Autor dieser Analyse ist die Forschungsgruppe Wahlen