RZ-LEITARTIKEL: Gauck ist kein Staatsheiliger, aber eine herausragende Persönlichkeit

Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau, Horst Köhler, Christian Wulff – und jetzt also Joachim Gauck. Der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland: Wofür steht er? Was sagt er uns? Was wird er uns sagen? Was erwartet uns in den nächsten (hoffentlich!) fünf Jahren mit diesem Präsidenten?

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Theodor Heuss, Heinrich Lübke, Gustav Heinemann, Walter Scheel, Karl Carstens, Richard von Weizsäcker, Roman Herzog, Johannes Rau, Horst Köhler, Christian Wulff – und jetzt also Joachim Gauck. Der elfte Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland: Wofür steht er? Was sagt er uns? Was wird er uns sagen? Was erwartet uns in den nächsten (hoffentlich!) fünf Jahren mit diesem Präsidenten?

Das Scheitern von Köhler wie Wulff im höchsten Amt dieses Staates hat gelehrt: Prognosen über neue Bundespräsidenten sind riskante Projektionen von Einschätzungen, die auf Vergangenem beruhen – hinein in eine unkalkulierbare neue Sphäre mit ganz besonderen Anforderungen. Wer hätte im Ernst damit gerechnet, dass ein so pflichtbewusst erscheinender Mensch wie Köhler in schwierigsten Zeiten so unpreußisch aus dem Posten des Präsidenten flüchtet? Und wer wusste vor Dezember, dass ausgerechnet der Berufspolitiker Wulff im Schloss Bellevue innerhalb weniger Wochen zu einer Belastung seines ganzen Berufsstandes mutieren würde?

Noch mehr Berliner Republik

Gleichwohl sei es gewagt, einige Annahmen über unseren neuen Bundespräsidenten und unsere Zeit mit ihm zu treffen – basierend auf seiner Vita und Persönlichkeit. Ohne Wagnis können wir behaupten: Mit und unter Gauck wird Deutschland noch mehr von der westlich-katholisch geprägten Bonner Republik wegrücken und noch mehr Berliner Republik werden. Kanzlerin und Präsident stammen jetzt erstmals beide aus der früheren DDR, sind gleichermaßen protestantisch geprägt. Beide denken, wirken und agieren unlösbar vor dem Hintergrund der Ablehnung und der bis heute wie ein Wunder wirkenden Überwindung der kommunistischen Diktatur im Osten unserer Republik.

Überzeugender als Gauck kann man das Widerstehen gegen eine scheinbar übermächtige Diktatur sowie unbesiegbaren Freiheitswillen kaum verkörpern: Sein Vater wurde von den Sowjets nach Sibirien verschleppt, er wuchs nach eigener Einschätzung mit einem „gut begründeten Anti-Kommunismus“ auf und wurde Jahrzehnte von der Stasi überwacht. Mit Gauck bekommt diese so weltlich wie noch nie durchwirkte Republik aber auch einen zutiefst theologisch und kirchlich geprägten Präsidenten: Der Rostocker hat Theologie als bewusstes Gegengewicht zum Marxismus studiert, für ihn war und ist der christliche Glaube „die Möglichkeit, sich einer Wahrheit anzuvertrauen, die von niemandem befohlen und von niemandem genommen werden“ kann. Er hat auf dieser Basis in mehreren Phasen seines Lebens jahrzehntelang widersagt – als Pfarrer der Diktatur in der DDR, als Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde dem Druck des Zudeckens der Verbrechen des SED-Regimes, als Pensionär dem Trend zum Rückzug ins Private.

Von solch einer Persönlichkeit mit solchen Grundsätzen werden wir erwarten können, dass er Freiheit, Gerechtigkeit und innere Einheit in den Mittelpunkt seines machtarmen und gleichwohl potenziell einflussreichen Amtes stellen wird. Schon durch seine Vita, ganz bestimmt auch durch sein Auftreten und seine Reden wird er verkörpern und bei Bedarf auch anmahnen, dass es Werte jenseits von Koalitionsarithmetik und Unternehmensrenditen gibt. Gauck kann und wird in der Leitfunktion des Bundespräsidenten aus einem tiefen Fundus unerschütterlicher Werte und kraftvoller Erfahrungen schöpfen. Er wird damit diesem Land mehr Halt und Richtung geben können als seine beiden Vorgänger mit ihren Sozialisierungen bei Finanzorganisationen (Köhler) und in der Parallelwelt der Politik (Wulff).

Keine überhöhten Ansprüche

Gauck dürfte lebensklug genug sein, sich dabei aus dem Häuserkampf des politischen Alltags herauszuhalten und sich auch von den Parteien nicht zwischen die Fronten der Lager und des Klein-Kleins hineinzerren zu lassen. Wir Bürger und wir Medien schließlich sollten der Versuchung widerstehen, Gauck nach der quälenden Phase Wulff erst mit überhöhten Ansprüchen zu überladen, um ihn dann rasch danach daran zu messen und damit zwangsläufig scheitern zu lassen.

Auch Gauck ist ein fehlbarer Mensch – und wohl auch kein uneitler. Auch Gauck wird Fehler gemacht haben – und würde sich, wenn wir denn auch bei ihm wühlen wollen, manches vorhalten lassen müssen. Auch Gauck wird sich mit seinem komplexen Amt arrangieren müssen – und wird es im Spannungsfeld zwischen erstem Repräsentanten und erstem Mahner dieses Staates, zwischen Problembenennen und Zusammenführen, zwischen Politikbetriebsferne und Staatsnähe, zwischen intellektuellem Glanz und bürgerlicher Nähe nie allen recht machen können. Und noch etwas, was leicht vergessen wird, ist zu bedenken: Gauck ist 72 Jahre alt – und wird deshalb mit seinen Kräften klug haushalten müssen.

Merkels „prophetische“ Worte

Freuen wir uns deshalb als Staatsbürger wie als Mitmenschen wohlverstanden und maßvoll über Gauck und auf Gauck. Er ist kein Staatsheiliger, ganz bestimmt aber eine herausragende Persönlichkeit, die die lange Zeit so belastete und dann so glückliche deutsche Nachkriegsgeschichte im Inland wie im Ausland bestens repräsentieren kann. Wie sagte Kanzlerin Merkel im Januar 2010 in einer Rede zum 70. Geburtstag Gaucks: „Weil wir immer wieder Debatten brauchen, ist es so gut, dass wir Sie haben. Sie legen den Finger in die Wunde, wenn Sie eine Wunde sehen, aber Sie können auch Optimist sein und sagen: Es geht voran. Beides brauchen wir. Danke, dass es Sie gibt. Danke, dass Sie weiter da sind.“ Ausgerechnet das klägliche Scheitern von Merkels damaligem Favoriten Wulff lässt diese Worte unverdient prophetisch erscheinen – und wird dem Amt des Bundespräsidenten rasch seine Würde und seine Kraft zurückgeben.

Willkommen im Amt des Bundespräsidenten, Joachim Gauck! Und auf gute Jahre!

E-Mail: christian.lindner@rhein-zeitung.net