RZ-INTERVIEW Soziologe: Gewaltexzesse nehmen nicht zu

Der Überfall in Westerburg erinnert in seiner Brutalität an Vorfälle in Großstädten wie Berlin oder München. Die Täter, so scheint es, werden immer skrupelloser. Das stimmt nicht unbedingt, sagt Dirk Baier.

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Realität und Wahrnehmung gehen bei diesen Taten auseinander, so der Diplom-Soziologe. Baier ist stellvertretender Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Das Interview:

Die Polizei geht im Fall Westerburg bisher davon aus, dass sich Täter und Opfer zufällig begegnet sind. Nehmen diese plötzlichen Ausbrüche von Gewalt und das Risiko, Opfer zu werden, tatsächlich zu?

Es gibt kaum Statistiken darüber, wie nahe sich Opfer und Täter von Gewaltdelikten stehen. Generell kann man aber sagen, dass das Risiko, in Deutschland überhaupt Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, in den vergangenen Jahren gesunken ist. Wir haben, wenn man sich alle Gewalttaten anschaut, seit 1997 einen Rückgang von 10 Prozent. Die Jugendgewalt ist um 20 Prozent zurückgegangen. Das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, nimmt tatsächlich ab.

Trotzdem haben viele einen anderen Eindruck ...

Das hat unter anderem mit der Präsenz dieser Taten zu tun. Erstens wird heutzutage deutschlandweit über bestimmte Übergriffe berichtet und geredet. Wenn in Berlin in der U-Bahn etwas passiert, wissen das noch am selben Tag die Menschen in Bayern und Baden-Württemberg. Die Ereignisse sind über das Lokale hinaus Thema. Zweitens wird sehr viel länger darüber gesprochen. Ein Fall beschäftigt die Menschen Tage, manchmal Wochen. So entsteht bei vielen der Eindruck, dass Gewalt zunimmt. Die Realität ist eine andere.

Was macht die mediale Präsenz mit den Tätern? Entwickeln sie in den Tagen nach der Tat Reue?

So etwas wie Reue entwickelt sich in den ersten Tagen nach der Tat sicher nicht. Viele realisieren erst einmal, was passiert ist. Wenn wir mit jugendlichen Gewalttätern sprechen, hören wir häufig Sätze wie „Ich war wie im Rausch“ oder „Das war wie im Film, ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern“. Sie bemerken also erst durch die Berichterstattung, was sie angerichtet haben. Und dann kommt tendenziell eher die Angst dazu, erwischt zu werden. Je nachdem, in welchem Milieu die Jugendlichen verkehren, spielt auch Stolz eine Rolle. Sie empfinden die mediale Aufmerksamkeit als Wertschätzung.

„Früher haben wir nicht mehr nachgetreten, wenn einer am Boden lag“ – diesen Satz hört man oft. Hat sich die Qualität der Taten verändert?

Man hört so etwas immer wieder von Richtern oder Staatsanwälten. Ich misstraue diesen Aussagen. Zumindest im Bereich Jugendgewalt kommen heute bei einem Richter sehr viel weniger Taten an, als das früher der Fall war. Die Verfahren bei leichten oder mittelschweren Delikten werden gegen Auflagen – zum Beispiel Sozialstunden – eingestellt. Ein Richter hat also nur noch mit einem kleinen, nämlich dem sehr schweren Teil der Jugendgewalt zu tun. So kann schon der Eindruck entstehen, es gäbe mehr brutale Taten. Die Statistik sagt aber etwas anderes. Die Zahl vollendeter Mordtaten zum Beispiel lag 1993 bei 666, im vergangenen Jahr waren es noch 323. Die Zahl der Raubüberfälle, die auch als brutale Delikte gelten, hat sich in diesem Zeitraum ebenfalls halbiert.

In Westerburg ist von drei, möglicherweise vier Tätern die Rede. Welche Rolle spielt die Gruppendynamik bei solchen Überfällen?

Es gibt zwei zentrale Verstärkungsfaktoren von Gewalt. Der erste ist die Anwesenheit anderer. Wenn man mit Freunden loszieht, die zu Gewalt neigen, kann sich das aufschaukeln. Dann tut man Dinge, die man allein höchstwahrscheinlich nie tun würde. Ein fast noch stärkerer Auslöser von Gewalt ist aber Alkohol. Mehr als jede dritte Gewalttat wird unter Alkoholeinfluss verübt. Wenn beides auch noch zusammenkommt, ist das Eskalationspotenzial riesig.

Welche Rolle spielen Herkunft oder andere soziale Faktoren?

Eine Ballung von Problemen gibt es im unteren Bildungsmilieu, aber grundsätzlich gibt es Gewaltbereitschaft in allen sozialen Schichten. Einen viel größeren Unterschied als die Schichtzugehörigkeit macht das Geschlecht aus. Jungen und junge Männer sind etwa dreimal häufiger Gewalttäter als Mädchen oder junge Frauen. Da hat sich in den vergangenen Jahren nicht viel verändert. Ein weiterer Faktor, den wir benennen sollten, wenn wir über Gewalt sprechen, ist der Migrationshintergrund. Vor allem Menschen mit muslimischem Hintergrund haben ein dreifach höheres Risiko, Mehrfachtäter zu werden.

Allein entscheidend ist der Migrationshintergrund sicher nicht ...

Nein, verallgemeinern kann man das sicher nicht. Aber in Migrantenfamilien, das können wir belegen, erfahren Kinder zum Teil noch häufiger Gewalt durch ihre Eltern. Gewalt erzeugt in diesem Fall Gewalt. In Migrantenfamilien sind zudem zum Teil Macho-Orientierungen verbreiteter. Das heißt, als Mann muss man sich mit Gewalt zur Wehr setzen, sonst ist man ein Schwächling. Das führt dann zu entsprechendem Verhalten.

Die Fragen stellte Angela Kauer