Berlin/Rheinland-Pfalz

Rettungsdienst wird selbst zum Notfall: Zahl der Einsätze hat sich seit 2007 verdoppelt – viele wären aber vermeidbar

Von Christian Kunst
Die Rettungsdienst-Leitstellen in Koblenz und Montabaur bekommen beide Leitstellen pro Jahr jeweils 150.000 Anrufe, die zu je 90.000 Rettungsdiensteinsätzen führen.
Die Rettungsdienst-Leitstellen in Koblenz und Montabaur bekommen beide Leitstellen pro Jahr jeweils 150.000 Anrufe, die zu je 90.000 Rettungsdiensteinsätzen führen. Foto: dpa

Führende deutsche Notfallmediziner schlagen Alarm: Immer weniger Personal in Rettungsdienst und Kliniken muss sich um immer mehr Notfallpatienten kümmern. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Notfalleinsätze auf 6,5 Millionen im Jahr 2017 verdoppelt, sagte Dr. Stephan Prückner, Direktor des Instituts für Notfallmedizin und Medizinmanagement an der Uniklinik München, bei einem Fachkongress in Koblenz.

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Dieser „exorbitante“ Zuwachs sei nur zu etwa einem Viertel darauf zurückzuführen, dass die Bevölkerung älter und kranker wird. Das größere Problem seien Patienten, die sich nur für einen Notfall halten. „Patienten fühlen sich als Notfall, kennen die Strukturen nicht und finden sich im System schlecht zurecht. Und am einfachsten zugänglich ist eben die 112“, sagte Prückner. Aber nur etwa 30 Prozent der Notfallpatienten seien lebensbedrohlich erkrankt, also harte Notfälle, um die sich der Rettungsdienst kümmern muss. Alle anderen könnten entweder später ins Krankenhaus kommen, oder ihnen würde die Hilfe eines niedergelassenen Bereitschaftsarztes reichen.

150.000 Anrufe pro Jahr

Die Zahlen decken sich mit denen der Rettungsdienst-Leitstellen in Koblenz und Montabaur, die sich um etwa 1,5 Millionen Menschen im nördlichen Rheinland-Pfalz kümmern. Laut Stefan Schaefer, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst für Koblenz und Montabaur, bekommen beide Leitstellen pro Jahr jeweils 150.000 Anrufe, die zu je 90.000 Rettungsdiensteinsätzen führen. Jeder dritte Einsatz wäre jedoch vermeidbar, sagte Schaefer unserer Zeitung, könnte also auch von niedergelassenen Ärzten behandelt werden. Bei einem weiteren Drittel handele es sich um Patienten, die zwar ins Krankenhaus gehören, aber nicht dringend. Und nur bei einem Drittel, also etwa 30.000 Einsätzen, gehe es um lebensbedrohliche Fälle.

Schaefer versteht Patienten nicht, die statt der 116.117 für den Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) lieber die 112 anrufen, „weil sie dadurch den Rettungsdienst unnötig blockieren, der sich um richtige Notfälle kümmern muss“. Deshalb sei es dringend nötig, Leitstelle und KV-Bereitschaftsdienst enger zu verzahnen – wie vor zehn Jahre: Damals war die Bereitschaftsdienstzentrale in die Leitstelle eingebunden, um Anrufer besser zu lotsen. Doch dann habe man sich über die Fortsetzung nicht einigen können.

Berlin macht es vor

In Berlin gibt es eine solche Verzahnung. Mit ersten Erfolgen, wie Dr. Stephan Poloczek, Ärztlicher Leiter Rettungsdienst in Berlin, berichtete. 15 bis 20 Prozent der Notrufe würden mittlerweile von den Bereitschaftsärzten übernommen, was den Rettungsdienst entlastet. „Wir haben ein Problem: Wir haben keine patientenzentrierte Notfallversorgung“, beklagte Dr. Jörg Brokmann, Leitender Notarzt an der Uniklinik Aachen. Es gebe viele unterschiedliche Bezahlsysteme – für Kliniken, Rettungsdienst, Kassenärzte. „Da steht leider nicht der Patient im Vordergrund“, sagte Poloczek. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) müsse die gesamte Notfallversorgung dringend bundeseinheitlich regeln. „Wir müssen die richtige Hilfe zum richtigen Patienten bekommen“, forderte Bernhard Gliwitzky, Notfallmediziner aus dem rheinland-pfälzischen Knittelsheim (Kreis Germersheim).

Zurückhaltend äußerten sich die Experten zu einer möglichen Aufrüstung der Rettungskräfte angesichts der zunehmenden Gewalt, der sie bei Einsätzen ausgesetzt sind. „Abwehrspray und Schutzwesten werden immer gefordert“, sagte Poloczek. „Aber das ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Polizei.“ Stattdessen setzt er auf Deeskalation, Einsätze mit Polizeiunterstützung und mehr Fortbildungen. Doch auch da sei die Politik gefordert: „Wir brauchen Ressourcen für Gesprächstraining und für Deeskalierung, um solche Verbalattacken abzuwehren.“

Von unserem Redakteur Christian Kunst