Leitartikel: Historische Dimension nicht nur für die SPD

Chefredakteur Peter Burger
Chefredakteur Peter Burger Foto: Jens Weber

RZ-Chefredakteur Peter Burger zur Lage nach dem SPD-Parteitag vom vergangenen Sonntag.

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Es hätte ein historischer Parteitag werden können – wie jener vor fast 60 Jahren, der mit dem Godesberger Programm die deutsche Sozialdemokratie mit einem klaren Bekenntnis zu Marktwirtschaft und Landesverteidigung zu einer modernen Volkspartei entwickelte. Oder wie jener legendäre 1983 in Köln, bei dem nur 14 von 400 Delegierten Bundeskanzler Helmut Schmidts fester Position zum Nato-Doppelbeschluss Folge leisten wollten. Damals freilich stand der SPD-Chef (Willy Brandt) auf der Seite der Gegner – und mit ihm die ganze Führungsriege.

Es hätte ein historischer Parteitag werden können, der durch den Aufstand großer Teile der Basis (nicht nur der Jusos) Parteigranden gleich reihenweise in den vorgezogenen Ruhestand entlassen hätte – und das nicht nur in der SPD! Auch über das Schicksal Angela Merkels, Horst Seehofers und vieler anderer in der Union wurde am Sonntag in Bonn mit entschieden: Hätte der Parteitag faktisch das Ende der GroKo und keine Koalitionsgespräche beschlossen, hätte dies die Quadratur der Raute nach sich gezogen: kein „Weiter so“. Auch Merkel wäre dann heute kaum mehr vermittelbar.

Es hätte ein historischer Parteitag werden können, weil Europa, dessen Schicksal der blasse Vorsitzende to go Martin Schulz immer wieder als besondere Verantwortung der Deutschen heraufbeschwor, nicht länger auf dieses zerstrittene Deutschland hätte warten wollen – und können. Diese Führungsrolle ist im Berliner Stillstand längst Frankreich mit seinem jungen, agilen Präsidenten zugefallen.

Es hätte ein historischer Parteitag werden können, wenn Herz und Bauch über den Verstand gesiegt hätten. Wenn sich das jungenhafte Gesicht der NoGroKo-Bewegung, Kevin Kühnert, mit spitzer Zunge und rhetorischer Brillanz, ungestüm, unverkrampft, unverbraucht – und uneinsichtig durchgesetzt hätte. Weit genug gekommen ist er jetzt trotz allem schon!

Demokratie ist das ständige Suchen nach Kompromissen

Und dennoch: Es war ein historischer Parteitag! Weil die Sozialdemokraten auch anderen Parteien zeigten, dass kontroverse Debatten in aller Öffentlichkeit nicht deren Tod einläuten müssen, sondern ihr (Über-)Leben sichern können. Selbst wenn sie sich bis kurz vor der Selbstverleugnung verbiegen müssen. Demokratie fußt nicht auf Meinungs- und Agitationsmonopolen, sondern auf der ständigen Suche nach Kompromissen, die für größtmögliche Teile der Bürger-, Wähler- und Mitgliederschaft das Bestmögliche herausholen.

Ja, es war ein historischer Parteitag! Weil er – trotz aller gegenteiligen Analysen – das Profil der „vermerkelten“ SPD wieder klar schärfte, indem Delegierte das offen aussprachen, was der Basis nach wie vor schwer im Magen liegt: im Gesundheitswesen, in der Flüchtlings- und in der Arbeitsmarktpolitik. Und weil Taktiker in Koalitionsgesprächen eher die große Chance als das Risiko sehen.

Der Parteitag von Bonn war gleichwohl erst der Auftakt zu einer weiter andauernden Zitterpartie, an deren Ende 446.000 SPD-Mitglieder darüber entscheiden werden, wie 46.389.615 gültige Wählerstimmen vom 24. September des vergangenen Jahres interpretiert werden sollen. Das sind nicht einmal 1 Prozent, wenn denn alle SPD-Mitglieder überhaupt gewählt haben. Sie allein werden darüber entscheiden, ob und wie Deutschland regiert werden kann: wahrlich eine historische Dimension.

E-Mail an den Autor: peter.burger@rhein-zeitung.net