Kommentar zum SPD-Sonderparteitag: Die verwundete Partei

Die Entscheidung ist gekommen, für jeden einzelnen, für jede einzelne hier im Saal.“ Mit diesen Worten warb SPD-Parteichef Martin Schulz zum Ende der emotionalen Aussprache beim Sonderparteitag für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen mit der Union. Was er nicht sagte: Es war auch eine Entscheidung über ihn, den Parteivorsitzenden. Wäre das Ergebnis anders ausgefallen, der Scherbenhaufen innerhalb der SPD wäre ungleich größer gewesen. Schulz hätte zurücktreten müssen.

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Dieses Dilemma ist zwar abgewendet, doch das Votum der Genossen zeigt, wie tief gespalten die Partei ist: 362 Delegierte stimmen mit Ja, 279 mit Nein. Das Misstrauen für eine Neuauflage der Großen Koalition ist so groß, dass es eine lange Phase der Vertrauensbildung brauchen wird, bis die Partei wieder geeint ist – und hinter dem Vorstand steht. Martin Schulz steht also vor einer Herkulesaufgabe: Er muss in den Koalitionsgesprächen so überzeugend sein, dass das Ergebnis bei einem anschließenden Mitgliederentscheid abgesegnet wird. Die mehr als 440.000 Genossen werden also das letzte Wort haben – mehr Basisdemokratie geht nicht. Und gleichzeitig muss Schulz die verwundete Partei nach innen heilen. Denn diejenigen, die mit Nein gestimmt haben, werden sehr kritisch nach der sozialdemokratischen Handschrift in einem Koalitionspapier schauen. 43,6 Prozent der Delegierten haben ihre ablehnende Haltung beim Sonderparteitag deutlich gemacht. Sie bilden keine skeptische Minderheit, sondern eine mächtige Opposition innerhalb der SPD.

Natürlich hat Schulz recht, wenn er sagt, dass nicht die SPD daran schuld ist, dass es seit der Bundestagswahl im September nur noch eine geschäftsführende Regierung in Deutschland gibt. Diese monatelange Ausnahmesituation haben allein die Jamaika-Verhandler herbeigeführt, allen voran die Liberalen, die die Gespräche mit fadenscheinigen Argumenten abgebrochen haben. Es ist jedoch kein Wortbruch der Genossen, dass sie sich jetzt auf Verhandlungen mit Merkel und Co. einlassen, sondern sie gehorchen allein dem Prinzip der Verantwortung – dazu müssen sie von ihrem ursprünglichen Wunsch, in die Opposition zu gehen, abrücken. Ihnen das zum Vorwurf zu machen, würde die parteipolitische vor die staatspolitische Räson stellen. Das kann niemand ernsthaft wollen.

Die Rede von Schulz beim Sonderparteitag war, wie Schulz nun mal ist: sehr fundiert, gut begründet, aber nicht mitreißend. Hingegen hat Fraktionschefin Andrea Nahles mit einer fulminanten Ansprache wahrscheinlich auch noch den letzten Unentschlossenen überzeugt. „Wir werden verhandeln, bis es quietscht auf der anderen Seite“, versprach sie. Und das glaubt man ihr. In ihrem engagierten Plädoyer kämpfte sie wie kein(e) andere(r) für ein Ja zu Koalitionsverhandlungen – und bekam deutlich mehr Beifall als Schulz. Mit Leidenschaft in der Stimme und Tränen in den Augen warnte sie vor Neuwahlen („Die Bürger zeigen uns doch den Vogel“) und mahnte, man würde ohnehin mit demselben Programm antreten („Das ist doch Blödsinn, verdammt noch mal!“). Nahles hat damit einmal mehr gezeigt: Sie kann die Sozialdemokratie in die Zukunft führen.

E-Mail: birgit.pielen@rhein-zeitung.net