Grünenchef Cem Özdemir im Interview: Was Grüne und Kanzlerin verbindet

Der Parteichef der Grünen, Cem Özdemir, fordert die Bundesregierung auf, „alles dafür zu tun“, damit sich Flüchtlinge erst gar nicht auf den Weg machen. Im Gespräch mit unserer Zeitung plädiert er dafür, Syriens Nachbarländern zu helfen, Flüchtlinge zu versorgen. Zudem brauchen die Menschen „die berechenbare Hoffnung auf Flüchtlingskontingente – nicht nur europäische, sondern auch amerikanische oder kanadische“, meint Özdemir. Das Interview im Wortlaut:

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Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

Jens Weber

Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

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Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

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Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

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Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

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Cem Özdemir im „Schlagabtausch“-Interview

Jens Weber

Die Polizei hat die lange Liste der Anzeigen nach der Horrornacht von Köln veröffentlicht. Was haben Sie beim Lesen gedacht – als Politiker, aber auch als Mann?

Es muss schrecklich für die Frauen gewesen sein, so etwas erlebt zu haben. Dann habe ich mich bei der hohen Zahl von Anzeigen doch gewundert, wie wenige Täter bisher ermittelt und festgesetzt wurden. Ich hoffe, dies ändert sich – und zwar schnell.

Ist Köln der finale Beleg für einen Kontrollverlust des Staates?

Die Ereignisse sind jedenfalls Wasser auf die Mühlen derer, die dies ständig behaupten. Die Kölner Polizei hat die Lage unterschätzt. Und jetzt stellt sich ja auch heraus, dass, trotz des Beteuerns von Innenminister de Maizière, auch die Bundespolizei nicht ausreichend Polizisten vor Ort hatte. Die Bundesregierung muss zügig Ordnung in die Verfahren bringen. Wir müssen wissen, wer hier ist und wer kommt. Die Ankommenden müssen registriert werden.

Machtkampf in 
Rheinland-PfalzVor der wichtigen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 13. März steht mit der Flüchtlingsfrage auch die Bundespolitik stark im Fokus. Deshalb führen wir auch Interviews mit Bundespolitikern, heute mit dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner.
Machtkampf in Rheinland-PfalzVor der wichtigen Landtagswahl in Rheinland-Pfalz am 13. März steht mit der Flüchtlingsfrage auch die Bundespolitik stark im Fokus. Deshalb führen wir auch Interviews mit Bundespolitikern, heute mit dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner.
Foto: Ezio Gutzemberg

Der Berg von 660.000 unbearbeiteten Asylanträgen muss dringend abgearbeitet werden. Für diejenigen mit Bleibeperspektive muss die Integration umgehend starten. Aber auch die Menschen ohne Bleibeperspektive dürfen nicht jahrelang sich selbst überlassen werden. Wir brauchen funktionierende Rücknahmeabkommen mit nordafrikanischen Ländern, damit diejenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, auch zurückgeführt werden können. Und auch mit denjenigen, die nicht abgeschoben werden können, müssen wir uns befassen. Wenn wir ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und Integrationsmaßnahmen verwehren, ist niemandem geholfen. Es hilft nicht, wenn die Große Koalition ein Ei nach dem anderen legt und keines davon ausbrütet. Sie muss endlich ihren Job machen und Beschlüsse umsetzen, statt sich wie die Kesselflicker zu streiten und damit radikale Ränder zu stärken.

Derzeit wissen wir nicht, wer ins Land kommt, ...

(hakt sofort ein): Für Rheinland-Pfalz trifft dies nicht zu. Die Landesregierung macht ihre Hausaufgaben, registriert die Ankommenden und sorgt auch dafür, dass sie angemessen untergebracht werden. Aber kein Bundesland kann Rücknahmeabkommen verhandeln, allein für ausreichend Personal sorgen oder die Verfahren beschleunigen. In Rheinland-Pfalz haben Landesbeamte sogar geholfen, dass es im Nürnberger Bundesamt schneller vorangeht. CDU-Politikerin Julia Klöckner würde uns allen helfen, wenn sie sich bei ihren zahlreichen Medienauftritten daran erinnert, dass ihre eigene Partei die Bundesregierung führt. Dort sollte sie einmal preußische Tugenden einfordern: Das Bundesamt muss die Verfahren beschleunigen, damit Entscheidungen schneller vorliegen.

Und damit auch schneller abgeschoben werden kann?

Wir wissen, dass nicht jeder bleiben kann. Wir Grünen bestehen aber auf der individuellen Prüfung des Asylrechts. Diese Prüfung kann so oder so enden. Viele der Menschen sind bereit, bei Ablehnung freiwillig zurückzugehen, damit ihnen die Abschiebung erspart bleibt. Hier ist gerade das rot-grüne Rheinland-Pfalz sehr erfolgreich.

Kann Kanzlerin Merkel mehr auf Partei und Fraktion Ihrer Partei vertrauen als auf Teile der eigenen Fraktion?

Es ist ja nicht deshalb etwas falsch, wenn es Frau Merkel sagt. Wir entscheiden in der Opposition auf der Sachgrundlage. Als die Kanzlerin die Flüchtlinge, die an unseren Grenzen saßen, ins Land ließ, haben wir gesagt: Das ist eine riskante, aber richtige Entscheidung. Wir wollen keinen Rückfall in die Nationalstaaten. Wir brauchen Europa. Deshalb sage ich mit Blick auf die AfD-Vereinfacher: Mit Nationalstaaten allein wird nichts besser gelöst, im Gegenteil. Der Wegfall der Binnenkontrollen im Schengen-Raum ist eine große Errungenschaft. Deshalb muss Deutschland auch bei der Kontrolle der Außengrenzen kraftvoll mitanpacken. Deutschland würde heute besser dastehen, wenn wir im Fall von Lampedusa auf den Hilferuf von Italien reagiert hätten. Denn heute sind wir auf die Solidarität anderer EU-Länder angewiesen.

Sie sehen also offene Rechnungen?

Ganz eindeutig. Deutschland wäre heute glaubwürdiger, wenn es sich früher solidarischer gezeigt hätte. Aber der Blick zurück bringt uns nicht weiter. Europa funktioniert nur mit dem Gedanken der Solidarität. Dies gilt in alle Richtungen. Eines aber geht nicht: Dass man sich in den Kassen Europas bedient, aber bei der Flüchtlingsfrage so tut, als ginge sie das eigene Land nichts an.

Schlepper machen mit Flüchtlingen ein Milliardengeschäft. Welche Alternativen sehen Sie?

Ich halte es für wichtig, den Nachbarländern von Syrien – also im Libanon, in Jordanien, im Irak oder auch in der Türkei – zu helfen, Flüchtlinge zu versorgen. Das ist aber auch nur dann gut angelegtes Geld, wenn die Kinder endlich zur Schule gehen können und es auch Arbeitserlaubnisse gibt. Hinzu kommt ein wichtiger Punkt: Die Menschen brauchen die berechenbare Hoffnung auf Flüchtlingskontingente – nicht nur europäische, sondern auch amerikanische oder kanadische. Dies könnte eine Perspektive sein, sich nicht auf die Schlepper einzulassen.

Welches Kontingent könnte Deutschland verkraften?

Zahlenspekulationen lösen kein einziges Problem. Will Herr Seehofer etwa Menschen zurück in den Krieg schicken oder im Niemandsland zurücklassen, wenn die von ihm propagierte Obergrenze erreicht ist? Die derzeitige Ausnahmesituation von einer Million Flüchtlingen werden wir auf Dauer nicht jedes Jahr bewältigen können. Wir sollten daher alles dafür tun, damit sich Menschen erst gar nicht auf den Weg machen müssen. In Syrien hat der Westen viel zu lange tatenlos zugesehen. Und, was auch dazu gehört: Wir sollten mit unseren Landwirtschaftssubventionen nicht die afrikanischen Märkte ruinieren, nicht Meere vor Westafrika leer fischen. Und ganz wichtig ist der Klimaschutz, damit nicht als nächste Fluchtursache Klimakriege drohen. Wir müssen weg vom Verbrennungsmotor und raus aus der Kohle.

Die AfD profitiert vom Flüchtlingschaos, wie sie es nennt. Was wäre so problematisch daran, wenn sie in die Landtage in Mainz und Stuttgart einzieht?

Die AfD setzt auf billige Parolen. Ihre Rezepte waren auch vorgestern schon ungenießbar. Ich rate beiden großen Volksparteien dazu, der AfD nicht hinterherzulaufen und ihr nicht nach dem Mund zu reden. Das macht sie nur stärker. Wenn die Politik ihre Hausaufgaben gut macht, werden für Menschen Gründe wegfallen, die AfD zu wählen.

Würden Sie sich mit einem AfD-Vertreter in einer Fernsehdebatte an einen Tisch setzen?

Das habe ich schon gemacht. Aber es ist kein Spaß.

Müssen wir den Menschen, die zu uns kommen, klarer sagen, was in Deutschland geht und was nicht geht?

Menschen, die zu uns kommen, mit unseren Gesetzen vertraut zu machen, ist selbstverständlich. Zur Integration gehören für mich drei Dinge: die Sprache; das heißt, auch der anatolische Schwabe Cem Özdemir muss sich in Rheinland-Pfalz verständlich auf Hochdeutsch ausdrücken können. Zweitens: Integration in die Arbeit oder in Schule und Ausbildung. Genauso wichtig ist drittens die kulturelle Integration. Wer nach Deutschland kommt, kommt ins Land des Grundgesetzes – in ein Land, in dem Mann und Frau gleichberechtigt sind und ein Lebensstil nicht vorgeschrieben wird. Heilige Bücher achte ich, aber sie stehen nicht über dem Grundgesetz.

Wie bewerten Sie die Verhandlungen mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage? Die Bundesregierung setzt große Hoffnungen darauf. Gleichzeitig geht die türkische Führung immer radikaler gegen Kritiker vor. Wie verlässlich ist die Türkei Ihrer Ansicht nach überhaupt?

In der Regierung würden wir in einer Situation, in der wir die Türkei in der Flüchtlings- wie in der Syrienfrage brauchen, auch Verhandlungen aufnehmen. Wir würden aber darauf achten, dass sich die Situation der Flüchtlinge auch wirklich verbessert. Ihre Lebensbedingungen, Stichwort: Zugang für Bildung für die Kinder und Zugang zu Arbeit für die Erwachsenen, müssen sich spürbar verbessern, sonst werden sie nicht bleiben. Es darf auch nicht sein, dass die Türkei im eigenen Land neue Fluchtursachen schafft, indem sie das Land ins Chaos stürzt und Städte im Südosten unter dem Deckmantel der vermeintlichen Terrorbekämpfung abriegelt.

Die Bundesregierung darf der Türkei keinen Freifahrtschein ausstellen. Was ist das denn für eine Situation, dass die Tagesordnung des Deutschen Bundestags von Ankara bestimmt wird? Ich habe mit Kollegen aus CDU und SPD einen gemeinsamen Antrag ausformuliert, mit dem wir den Völkermord an Armeniern anerkennen. Er ist aber inzwischen gegenstandslos, weil die Fraktionsspitzen ihre Abgeordneten zurückgepfiffen haben. Als Begründung sagt man mir in Berlin sehr offen: „Wir dürfen wegen Erdogan nicht.“ Ich als Grüner, der seine Vorfahren in der Türkei hat, kämpfe dafür, dass christliche Völker im Orient eine Zukunft haben. Ich würde mir wünschen, dass ich dabei die Christdemokraten an meiner Seite hätte. Das C im Namen sollte nicht nur für Sonntagsreden gut sein.

Das Interview führten Chefredakteur Christian Lindner und Ursula Samary