Berlin

Experte fordert besseren Schutz vor Ärztefehlern

Das vom Bundeskabinett beschlossene Patientenrechtegesetz fällt beim Aktionsbündnis Patientensicherheit glatt durch. Geschäftsführer Hardy Müller fordert im Gespräch mit unserer Zeitung eine Sicherheitskultur bei Ärztefehlern, bei der Mediziner nicht an den Pranger gestellt werden. Bei geschätzten jährlich 17 000 Toten durch Behandlungsfehler müsse deutlich mehr Geld in die Patientensicherheit fließen.

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Werden die Bürger mit der Reform des Patientenrechtegesetzes besser vor Ärztefehlern geschützt?

Das geplante Gesetz ist ein wichtiger Schritt. Wenn man aber weiß, was möglich wäre, dann bleibt der Referentenentwurf weit hinter den Erwartungen zurück. Die Regierung läuft damit Gefahr, die vorhandenen Chancen zu verspielen.

Was wäre denn möglich?

Stichwort Förderung der Fehlervermeidungskultur: Möglich und sinnvoll wäre es, eine Sicherheitskultur zu fördern. Wir sollten uns im Gesundheitssystem nicht auf die Fehler konzentrieren und darauf mit dem Finger zeigen. Natürlich brauchen wir eine sorgfältige Fehleranalyse. Das Ziel muss aber mehr Sicherheit für die Patienten sein. Und diese lässt sich in einem vertrauensvollen Sicherheitsklima besser erreichen. Motivierender und strategisch günstiger ist es, positive Ziele zu setzen.

Was heißt Sicherheitskultur?

Dazu gehört, dass man über Fehler spricht, dass man eingesteht, dass Irren menschlich ist, Ärzte Menschen sind und man ganz selbstverständlich über Fehler berichten kann. Die betroffenen Mediziner dürfen keine Angst haben, an den Pranger gestellt oder sogar mit strafrechtlichen Konsequenzen bedroht zu werden. Man sollte über Fehler sprechen, um Lehren daraus zu ziehen und künftig besser zu werden. Das Gesetz fördert dies nicht ausreichend. Es stellt zum Beispiel nicht sicher, dass die Daten aus dem Fehlermeldesystem vor polizeilichem und staatsanwaltlichem Zugriff geschützt werden. Das gibt Ärzten eben gerade nicht das Signal, über Fehler sprechen zu können. Zur Sicherheitskultur gehört, dass nach einem Zwischenfall Reden Gold ist. Es sollte normal sein, dass ein Arzt das Problem auch ansprechen kann, sich bei den geschädigten Patienten entschuldigt und damit deutlich macht, dass er den Fehler ernst nimmt.

Das hilft den Patienten?

Ja. Wir wissen von Betroffenen, dass das Schlimmste für sie nicht ist, dass ein Tupfer vergessen wurde, sondern dass sich die Ärzte nicht einmal bei ihnen entschuldigt haben, dass sie nicht mit ihnen über den Fehler gesprochen haben. Auch die „zweiten Opfer“, die Mediziner selbst, fühlen sich in der jetzigen Kultur des Verschweigens oft sehr alleingelassen und bedroht. Deshalb wäre die Sicherheitskultur auch für die Leistungserbringer von großem Vorteil.

Was muss die Politik tun, um eine Sicherheitskultur zu fördern?

Es ist zu begrüßen, dass das Gesetz eine Finanzierung von Fehlermeldesystemen fördert. Es gibt eine Möglichkeit, dass die Kassen bei den Verhandlungen mit Krankenhäusern Zuschläge vereinbaren, um solche Systeme zu finanzieren. Aber wir müssen ehrlich sein und eingestehen: Diese Systeme fallen nicht vom Himmel. Wir müssen sie entwickeln, einsetzen und evaluieren. Und die jetzt im Gesetz geförderten Fehlermeldesysteme sind nur ein Buchstabe im Alphabet der Patientensicherheit. Es geht um die Erhöhung der Patientensicherheit. Daher stellen sich die Fragen: Wer finanziert die konkreten Maßnahmen, um Fehler abzustellen? Wie wird Patientensicherheit weiter bedarfsgerecht erforscht? Woher kommt die notwendige Infrastruktur, um die Fehlerthematik bearbeiten zu können? Für diese Aufgaben gibt es keine systematische Unterstützung. Deshalb ist es höchste Zeit, für die systematische Finanzierung von Anliegen der Patientensicherheit generell und die dafür notwendigen Strukturen zu sorgen.

Was sind weitere Buchstaben?

Schulungen zur Vermeidung von Behandlungsfehlern – also Simulationstrainings, bei denen Behandlungen zunächst an Dummys geübt werden. „Patientensicherheit kann man lernen“, illustriert uns der Präsident der Ärztekammer Berlin, Günther Jonitz. Wir brauchen auch mehr Geld für die Auswertung, Analyse und Erforschung von Behandlungsfehlern, um zu verhindern, dass diese wieder passieren. Unser Aktionsbündnis Patientensicherheit beispielsweise wird ehrenamtlich geführt und ist abhängig von Spenden und Projektförderungen. Da stellt sich schon die Frage, ob das angemessen ist für ein Industrieland wie Deutschland – zumal wir davon ausgehen, dass jährlich 17 000 Krankenhauspatienten aufgrund eines vermeidbaren Behandlungsfehlers sterben. Das sind fünfmal mehr Opfer als im Straßenverkehr.

Viele sterben wegen Hygieneproblemen in Kliniken. Was sollte hier getan werden?

Erkenntnisse müssen umgesetzt werden, so kann zum Beispiel die „Aktion Saubere Hände“ unterstützt werden. Diese Aktion sorgt dafür, dass in Krankenhäusern und Pflegeheimen die Hände häufiger desinfiziert werden. Wir müssen Kliniken mehr informieren und unterstützen, um dieses oft unterschätzte, aber sicher nicht triviale Problem der schieren Handdesinfektion besser angehen zu können. Die von den Bundesländern geforderten Hygieneverordnungen helfen dabei wenig. Was wir an Verbesserungen brauchen, ist unabhängig von Vorschriften erreichbar. Der Wille ist entscheidender.

Was muss noch passieren?

Ärzte sollten vor einer Operation ähnlich wie im Luftverkehr Checklisten durchgehen: Ist dies der richtige Patient? Operieren wir die richtige Seite? Sind alle an Bord? Ein anderes Stichwort ist das Team- Timeout – das heißt, dass vor dem ersten Schnitt alle noch einmal innehalten und alles prüfen. Das sind alles gängige Instrumente – wir müssen sie umsetzen.

Wie weit ist dieses Denken bereits unter Ärzten verbreitet?

Unsere Befragungen von Kliniken zeigen, dass sich viele Krankenhäuser mit dem Thema befasst haben. Doch das sind oft nur Beteuerungen. Die Rückmeldungen, die ich aus Krankenhäusern bekomme, sprechen eine andere Sprache. Es ist heute nicht normal, dass man einem Arzt, der einen Fehler eingestanden hat, dankbar ist. Er muss eher Sanktionen befürchten. Es ist normal, dass der Chefarzt gefeuert und die Abteilung geschlossen wird. Man denke nur an das Beispiel der toten Säuglinge in einer Bremer Klinik. Es geht aber nicht darum, Schuldige zu finden, um sie zu feuern, sondern darum: Welche systematischen und organisatorischen Bedingungen haben dazu geführt, dass es zu einem Fehler gekommen ist? Und wie können wir das künftig verhindern? Irren ist menschlich – nicht in die Patientensicherheit zu investieren, ist tödlich. Wie viele Tote brauchen wir noch, bis wir die vorhandenen Instrumente einsetzen?

Sollte die Beweispflicht bei Behandlungsfehlern auch bei harmloseren Fällen umgekehrt werden?

Nein. Auch wir wollen keine Defensivmedizin. Aber wir brauchen einen Härtefallfonds. Dieser sollte greifen, wenn ein Fehler nicht nachzuweisen ist oder dies sehr lange dauert und die geschädigten Patienten voraussichtlich sterben, bevor eine Kompensation erreicht wird. Interessanterweise ist diese Idee eines Mechanismus zur Abfederung unbilliger Härten im Gesetzgebungsverfahren bis jetzt nicht aufgegriffen worden. Ich empfinde dies als ein Defizit.

Gehören die individuellen Gesundheitsleistungen (Igel) abgeschafft?

Das lässt sich nicht realisieren. Aber wir müssen die Patienten darüber deutlich besser aufklären. Die derzeitige Praxis verstößt oft gegen jede Mindestanforderung – von der Zustimmung der Patienten bis zur Rechnungsstellung. Deshalb muss ein Gesetz, das die Situation der Patienten verbessern will, dringend etwas an den Regelungen für Igel-Leistungen ändern

Das Gespräch führte Christian Kunst