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Eine Tragödie mit Ansage im Internet

Kurz vor dem Unglück am Samstag versuchen Menschen am Tunnelausgang in Duisburg über eine Nottreppe zu klettern.
Kurz vor dem Unglück am Samstag versuchen Menschen am Tunnelausgang in Duisburg über eine Nottreppe zu klettern. Foto: dpa

Es ist paradox und doch wahr: Das Netz ist vergesslich – das Netz vergisst nichts. Eine Analyse des elektronischen Geschehens rund um die Duisburger Tragödie.

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WWW – Es ist paradox und doch wahr: Das Netz ist vergesslich – das Netz vergisst nichts. Nach der Duisburger Tragödie erscheinen im Kurznachrichtendienst Twitter schnell die ersten Hinweis auf das ungeeignete Loveparade-Gelände, mit Verweisen auf tagealte Diskussionen über die bekannten Gefahren. Doch andererseits lässt sich der Ablauf des Unglücks in Twitter nicht mehr rekonstruieren, weil die alten Meldungen verschollen sind, zugedeckt von zehntausenden Kurzmeldungen, Tweets genannt.

Die Katastrophe ist erst drei Stunden alt, da twittert der Medienjournalist Thomas Lückerath aka@DWDL nach kurzer Netzrecherche einen wenige Tage alten Beitrag aus dem Diskussionsforums des Onlinedienstes „DerWesten“ „…sehe ich das richtig, dass die versuchen 1 million menschen über die 1-spurige! TUNNELSTRAßE! Karl-Lehr-Straße mit zwischendurch 2 kleinen trampelpfaden hoch zum veranstaltungsgelände zu führen? also in meinen augen is das ne falle…ich sehe schon tote…„

Diese Nachricht wird stundenlang wiederholt. Sie ist der erste Hinweis im Netz, dass die Organisatoren und Sicherheitskräfte in Duisburg fatale Fehler gemacht haben. Später folgen Hinweise auf einen wenige Tage alten Pressebericht mit dem Titel: „Loveparade wird zum Tanz auf dem Drahtseil“ und weitere warnende Beiträge in Twitter und in Blogs.

Videos decken Sicherheitsprobleme auf

“Youtube-Videos entblößen die Fehlorganisation der Loveparade Veranstalter” schreibt „@karlkalauer“ in Twitter. Im Videodienst YouTube haben viele Besucher des Katastrophen-Raves ihre kurzen Videoschnipsel eingestellt. Sie zeigen die zusammengepferchte Menge in und vor dem Todestunnel und die Versuche, mit waghalsigen Klettermanövern dem bedrückenden Chaos zu entkommen.

Ein anderer Twitter-Nutzer, „Muschelschloss“ trägt akribisch Informationen zum Unglück zusammen. Er zeigt einen Vergleich zwischen dem abgeriegelten Loveparade-Gelände in Duisburg und dem sternförmig offenen Platz der früheren Technofeste in Berlin: Das Bild verstärkt die Zweifel an der Kompetenz der Verantwortlichen.

„Bin wieder da!“

Viele Kurzmeldungen sind Bekundungen des Mitgefühls und der Trauer. Im Laufe des Samstagabends erscheinen immer mehr Vermisstenmeldungen in Twitter, die auch permanent wiederholt („retweeted“) werden. Dann erscheinen auch tröstliche Tweets wie dieser: „@JT_MG: Wie mach ich denn hier klar, dass ich wieder aufgetaucht bin??? Es kommen immer noch Suchmeldungen in denen ich stehe.“

Den größten Aufreger des Samstagabends liefert bild.de mit der pietät- und rücksichtslosen Bilderserie, die auch Todesopfer zeigt. Hundertfach werden Boykottaufrufe gegen die Bild-„Zeitung“ wiederholt und zu Beschwerden beim Deutschen Presserat aufgefordert. Erst am Sonntag gelingt es der ehemaligen ARD-Moderatorin Eva Herman, mit einem Beitrag im etwas esoterischen Onlinemagazin die Aufregung um „Bild“ zu toppen: „Sex- und Drogenorgie Loveparade: Zahlreiche Tote bei Sodom und Gomorrha in Duisburg”. Das Interesse an dem Elaborat ist so groß, dass der seltsame Onlinedienst unter der Last der Anfragen fast zusammenbricht.

Auf den Duisburger Sicherheits-Verantwortlichen lastet der größte Druck und sogar Hass der Netzgemeinde. Das ungläubige Staunen über die Fehleinschätzung und Arroganz des „Panikforschers“ Michael Schreckenberger fasst @Klartextexperte so zusammen: „Was ist ein #Panikforscher wert, der das Irrationale an seinem Forschungsgegenstand ignoriert?“ @ingomar meint: „…ahnungsloser theor. Physiker, ist der Unterschied zwischen Kirchentag und #loveparade unklar.“

In einem Blog rechnet Lars Fischer am Sonntagmittag vor, dass der Tunnel von Duisburg viel zu klein für die große Zahl der zu erwartenden Besucher war. Sein Beitrag findet in Twitter große Resonanz, ebenso zahllose Proteste gegen die beschwichtigenden Worte Duisburger Verantwortlicher. Bilder und Videos bekräftigen die Vorwürfe der Netzgemeinde: „@dackworld: Polizei behauptet keine eigenen Videos gemacht zu haben. Schaut mal rechts oben…http://bit.ly/cePrzx".

Welle der Hilfsbereitschaft

Doch die schnellen Medien sind nicht nur Foren des Protests. Eine Welle der Hilfsbereitschaft hat@Timelinedancer erfahren und bedankt sich in seinem Blog für die zahlreichen Hilfeangebote und eine Followerin (Mitleserin), die ihn schließlich aus dem Duesburg Chaos wegbrachte.

User Whykiki aka@musiktipps24 entschuldigt sich in seinem Blog in aller Form, auf die Stadt Bochum geschimpft zu haben, die sich vergangenes Jahr der Loveparade verweigert hatte: „Anscheinend haben die Verantwortlichen dort das einzig richtige getan. Scheiss auf das Geld und die Händler, anscheinend war man sich hier der Verantwortung den Menschen gegenüber bewusst.“

Jochen Magnus