Neuwied
Corona, Causa und der Zustand seiner Dezernate: Ralf Seemann (Grüne) spricht im RZ-Interview über seinen Start als Beigeordneter
Ralf Seemann (Grüne)
Grüne

Die Schonfrist für einen Neugewählten beträgt üblicherweise 100 Tage. Corona-bedingt ist daraus beim Beigeordneten Ralf Seemann ein halbes Jahr geworden. Wir haben mit dem Grünen über seinen Start ins Amt in turbulenten Zeiten gesprochen.

Lesezeit 10 Minuten

Wie war der Einstieg unter den besonderen Umständen?

Sehr Corona-mäßig. Ich konnte gerade einmal schauen, wo ich überhaupt sitze, da hatten wir auch schon den Lockdown. Dann haben wir angefangen, die Verwaltung umzustrukturieren. Bei wichtigen Schlüsselfunktionen mussten wir auch Vorsorge treffen, falls wir ganz schließen müssen. Es wusste ja keiner, was auf uns zukommt. Das war für die ganze Mannschaft eine Herausforderung.

Ralf Seemann (Grüne)
Grüne

Wie war die Verwaltung technisch vorbereitet?

Die Antwort ist einfach: gar nicht. Wir hatten keine Homeoffice-Arbeitsplätze. Das ist in den Jahren zuvor einfach nicht umgesetzt worden. Es gab immer mal wieder Ideen, aber es wäre eine Grundsatzentscheidung für die Verwaltung gewesen, unser IT- System zu öffnen. Dazu gehört auch eine Investition, die zwar überlegt, aber bei den Haushaltsberatungen wieder abgeräumt worden ist. Als Corona kam, hat die IT im Haus fast Wunder vollbracht. Innerhalb von wenigen Wochen hatten wir 260 Homeoffice-Arbeitsplätze – zwar mit einer gewissen Anfälligkeit, aber wir waren in der Lage, die halbe Mannschaft von zu Hause arbeiten zu lassen.

Neben Corona hat auch die Causa Mang für reichlich Wirbel gesorgt. Wie haben Sie es erlebt?

Das geisterte immer durchs Haus. Allein die Frage: Ist er da oder nicht? In meinen ersten zweieinhalb Monaten war Michael Mang krank und gar nicht hier. Dann ist er plötzlich wieder zur Arbeit erschienen. Die Atmosphäre im Haus war schwierig. Jetzt, da es vorbei ist, spürt man Erleichterung. Mich persönlich hat es in meiner Arbeit aber nicht eingeschränkt. Jeder Dezernent hat ja seine eigenen Bereiche.

Es war aber zu hören, dass auch Sie sich im Vorfeld intern klar zum Thema geäußert haben.

Ich habe Ämter von ihm übernommen, über die er eine gewisse Meinung hatte. Ich habe mit diesen Menschen gearbeitet und mich gefragt, wie man zu dieser Meinung kommt. Nehmen wir das Immobilienmanagement: Da arbeiten wirklich gute Leute, die ein vernünftiges Ergebnis abliefern. Da frage ich mich dann schon, wie man eine gänzlich andere Meinung haben kann. An diesen Stellen merkt man, dass es unterschiedliche Herangehensweisen gegeben hat.

Schauen wir uns Ihre Dezernate an und fangen mit dem Ordnungsamt an. Kürzlich gab es wieder in „sozialen“ Netzwerken Diskussionen über die Zustände vor der Matthiaskirche. Hat das Ordnungsamt Kapazitäten für mehr Kontrollen?

Grundsätzlich haben wir im Ordnungsamt acht kommunale Vollzugsbeamte, von denen momentan einer auf Fortbildung ist und einer im Innendienst arbeiten muss, weil da eine Kollegin auf Fortbildung ist. Auf der Straße haben wir also sechs Vollzugsbeamte im Dienst, die im Prinzip 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche Ordnungsdienste leisten sollten. Dass es begrenzt ist, wo sie auftauchen können, liegt auf der Hand.

Würden Sie sich mehr Personal in diesem Bereich wünschen?

Die Frage ist immer, was die Aufgabe ist. Diese Situation an der Matthiaskirche wird nicht dadurch gelöst, dass wir dreimal öfter kommen. Das geht nur im Zusammenspiel mit Frau Timm, der Streetworkerin. Man muss sich zusammensetzen. Das haben wir zum Beispiel auch gemacht, als die CDU beantragt hat, den Schützengrund wegen unhaltbarer Zustände aufzulösen. Keiner alleine hat die Lösung. Wenn jemand auf der Straße lebt, muss er irgendwo sein. Wenn wir sie an der einen Stelle vertreiben, suchen sie sich eine andere. Diese Aufgabe kann man nicht nur mit mehr Leuten beim Ordnungsamt lösen.

Gerade in der Coronazeit mit ihren ständig neuen Verordnungen wirkte es aber so, als seien die Mitarbeiter des Ordnungsamtes an der Belastungsgrenze. Hat sich das mittlerweile entspannt?

Das hat sich gelegt, weil wir einfach nicht mehr kontrollieren. Am Anfang haben wir ja alles Mögliche überprüfen müssen. Wir haben die Einzelhändler kontrolliert, wir haben die Gaststätten kontrolliert, wir haben die Maskenpflicht kontrolliert, wir haben Menschenansammlungen kontrolliert. Wir mussten an allen möglichen Stellen unterwegs sein. Hinzu kam, dass wir Aufgaben der Kreisverwaltung übernehmen mussten, weil die keine eigenen Beamten dafür haben. Das alles findet im Moment nur wenig statt. Der Einzelhandel hat sich reguliert, jeder weiß, was geht. Auch in den Gaststätten müssen wir nicht mehr so viel kontrollieren. Vor Kurzem gab es eine konzentrierte Aktion zusammen mit der Polizei. Und es klingelt auch immer mal wieder das Telefon, dass irgendwo 50 Leute zusammenstehen oder die Kunden im Nachbarladen keine Maske tragen. Aber es ist nicht mehr dieser Kontrolldruck, den es am Anfang gab.

Mehr Leute brauchen Sie nicht?

Nein. Allerdings müsste die Kreisverwaltung dringend handeln. Dann wäre das Problem gelöst. Sie wissen das auch, sparen aber Geld.

Das subjektive Sicherheitsgefühl einiger Neuwieder ist abends in der City nicht hoch. Wie wollen Sie das verbessern?

Meine Standardidee ist, die Stadt positiv zu beleben. Dann würde sich das Problem von alleine lösen. Wo Leben ist, wo Menschen sind, habe ich dieses Gefühl nicht. Das kann man nicht mit Ordnungsmaßnahmen lösen. Meine Antwort ist nicht, dass wir mehr Sicherheitskräfte brauchen.

Kommen wir zu den Finanzen. Zur Zeit hat man das Gefühl, dass niemand in der Stadt Licht am Ende des Tunnels sieht. Was muss passieren?

Es gäbe Licht am Ende des Tunnels, wenn das Land sich dazu durchringen würde, die Finanzausstattung der Kommunen zu verbessern. Da setze ich auf das Ergebnis der Musterklagen von Kaiserslautern und Pirmasens. Dann können wir mit einer moderaten Steuererhöhung den anderen Teil dafür tun und zumindest im Ergebnishaushalt eine gewisse Ausgeglichenheit erzielen. Da fehlt eigentlich nicht allzu viel.

Ralf Seemann ist seit einem halben Jahr als Beigeordneter im Amt. Die Aufstellung des Haushaltsplans für 2020 gehörte zu seinen ersten Aufgaben.
Ulf Steffenfauseweh

Warum klagen Sie nicht? Von der Musterklage ist schon so lange die Rede.

Wir könnten nur die mangelnde Finanzausstattung beklagen, und das machen Kaiserslautern und Pirmasens ja bereits. Es stimmt, dass dieser Prozess schon länger dauert. Aber die Verhandlung ist jetzt – man höre das Datum – auf den 11. 11. angesetzt. Ich hoffe, das hat keinen Einfluss auf das Ergebnis. Scherz beiseite: Danach sind wir ein Stück weiter und können sehen, ob sich etwas verbessert.

Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie nur bereit sind, die Grundsteuer B im nächsten Jahr anzuheben, wenn auch von der anderen Seite etwas kommt?

Nein. Verhandlungen sind Geben und Nehmen. Ich wäre auch bereit, in Vorleistung zu gehen. Und die Vizepräsidentin der ADD hat uns im Haushaltsausschuss hoch und heilig versprochen, dass sie sich auf Landesebene für eine Verbesserung der Finanzausstattung der Kommunen einsetzen wird, wenn wir unseren Teil leisten.

Kommen wir zum Rechtsamt: Der Amtsleiter selbst ist kein Jurist, was vom Vorgänger immer mal wieder kritisch kommentiert wird. Hat die Stadt zu wenige Juristen?

Ja, das war zumindest so. Wir hatten eine Zeit lang gar keine im Haus. Mittlerweile ist aber ein neuer Jurist eingestellt, das Auswahlverfahren für einen Zweiten läuft. Und wir werden sogar noch jemanden einstellen. Damit erübrigt sich auch die Frage, ob der Amtsleiter selbst Jurist sein muss.

Sie sind auch für die Grundschulen zuständig: Ist dort die Corona-Lage im Griff?

Ja. Aber sie ist natürlich angespannt. Und wenn es einen Corona-Fall, wie zum Beispiel an der Marienschule, gibt, muss umgestrickt werden. Unabhängig davon versuchen wir, uns digital aufzustellen. Wir haben im Stadtrat die Anschaffung von iPads beschlossen, um klassenweise im Homeschooling unterrichten zu können. Natürlich können wir keine idealen Sitzverhältnisse herstellen. Da brauchen wir uns nichts vormachen. Wir haben nur eine bestimmte Anzahl von Räumen, wir haben nicht weniger Schüler. Wir können sie auch nicht einfach zeitlich versetzt beschulen, dafür bräuchten wir die entsprechenden Lehrer. Also behilft sich jede Schule, so gut sie kann. Dazu gehört auch, dass die Kinder ermahnt werden, auf dem Schulhof Masken zu tragen. Das ist für alle eine schwere Situation. Es ist anstrengend. Aber sie sind echt tapfer und arbeiten sich da durch.

Hat die Stadt bei den Maßnahmen Spielraum oder sind das alles klare Landesvorgaben?

Das Land kam relativ spät mit den Hygieneregeln für die Schulen. Dann gab es ein Konzept, das man in drei Tagen hätte umsetzten sollen. Das war eine Katastrophe. Wir können ja baulich nicht in wenigen Tagen etwas verändern. Auch die Anforderung, überall fließend Wasser zu haben, kann ich nicht mal eben erfüllen, wenn ich kein Waschbecken im Klassenzimmer habe. Dann hat das Land gesagt dass wir stattdessen Desinfektionsmittel zur Verfügung stellen sollen – und das kommt dann mit 70 Prozent Alkohol. Nach drei Tagen hatten die Kinder wunde Hände von dem Zeug. Und die Schulleitungen mussten zusätzlich aufpassen, dass es keiner abfackelt. Das sind Probleme, die natürlich an uns als Schulträger herangetragen werden. Da kann man nur auf gute Zusammenarbeit setzen und gemeinsam nach pragmatischen Lösungen suchen. Im Großen und Ganzen würde ich sagen, dass wir das ganz gut hinbekommen haben.

Wie ist aus Ihrer Sicht die Kommunikation mit den Eltern gelaufen? Vor allem kurz vor Ende der Sommerferien schien große Unsicherheit zu herrschen.

Das kann ich gut nachvollziehen, auch wenn da noch Michael Mang und nicht ich im Amt war. Aber da kurz vor Schulbeginn immer noch kein Regelung vorlag, musste die Kommunikation zu den Eltern miserabel sein. Es gab ja nichts, was man kommunizieren konnte.

Es lag am Land?

Ja.

Kommen wir zum Immobilienmanagement, in dem es – wie Sie auch angedeutet haben – einen Aufruhr gegen Ihren Vorgänger gab. Wie ist jetzt der Zustand, die Stimmung, die Personalsituation?

Die Personalsituation ist ein bisschen besser geworden, wir haben im Sommer eine neue Architektin und einen neuen Techniker eingestellt. Aber wir suchen immer noch Personal. Das Immobilienmanagement hat eine Fülle von Aufgaben. Wir haben ungefähr 120 städtische Liegenschaften, von denen geschätzte 90 Prozent in einem desolaten Zustand sind. Das heißt, dass wir damit beschäftigt sind, die Mängel zu verwalten, die wir haben geschehen lassen, weil wir nie die nötigen Finanzmittel hatten. Wir haben jede Menge Dinge geflickt, um sie irgendwie am Laufen zu halten. Provisorien, damit die Bude nicht zusammenbricht. An manchen Stellen kann man das nicht anders ausdrücken. Und damit das klappt, reißen sich alle ein Bein aus.

Haben Sie einen Überblick über den Zustand der städtischen Immobilien?

Nein, ehrlich gesagt stochern wir teilweise im Nebel. Es gibt keinen aussagefähigen Zustandsbericht über alle Immobilien. Manchmal ploppt hier und da etwas auf und dann ist es dringend. Das ist Handeln auf Zuruf, und das geht nicht. Wir bereiten gerade vor, dass wir jemanden durch unsere Immobilien schicken, der sie nicht nur energetisch bewertet, sondern auch den Bauzustand erfasst. Wenn wir ein solches Immobilienportfolio haben, aber nur ein kleines Budget für die Erhaltung, müssen wir Prioritäten setzen. Und wir müssen dem Stadtrat sagen können: ,Wenn Ihr hier bei Priorität C investieren wollt, seht bitte auch, dass es noch sieben Maßnahmen mit Priorität A gibt, die wir dann liegen lassen müssen. Wenn ihr das wollt, entscheidet so.' Solche Aussagen können wir heute nicht treffen.

Kommen wir noch zum vielleicht heikelsten Bereich, dem Aufsichtsratsvorsitz bei der GSG. In welchem Zustand ist das Unternehmen?

Noch bin ich nicht Aufsichtsratvorsitzender. Da fehlt noch eine Formalie. Rein praktisch ist es natürlich schon so, dass Herr Meurer und ich am gleichen Tag angefangen haben und sehr eng zusammenarbeiten. Die GSG hat ein großes Aufgabenpäckchen vor sich. Wir haben einen riesigen Bestand von über 500 Immobilien. Auch da werden wir eine Bestandsaufnahme machen und daraus einen Aufgabenkatalog für die nächsten Jahre entwickeln. Die GSG ist ein grundsolides Unternehmen, aber wir müssen jetzt in den Bestand investieren.

Man hört, dass sich die GSG kürzlich auch von ihrer Prokuristin getrennt hat. Wie groß ist der Aufräumbedarf noch?

Da sind wir eigentlich schon ziemlich weit. Das Problem bei der GSG ist nicht nur der Aufräumbedarf nach Boberg, sondern dass wir drei Geschäftsführer hatten, die jeweils mit einer anderen Methodik herangegangen sind. Nach dem schnellen Abgang von Herrn Boberg stand die Frage im Raum, wie es weitergeht? Welche Veränderungen haben Bestand, wo wird das Rad zurückgedreht? Für viele dieser Fragen gibt es keine schnelle Antwort. Da muss sich auch Herr Meurer erst einmal einen Überblick verschaffen. Es gibt viel Gesprächsbedarf. Der Aufgabenkatalog ist groß, die Personaldecke dünn. Aber Herr Meurer hat tolle Arbeit geleistet. Er geht ganz akribisch vor, setzt stark auf Teamwork und guckt, dass man gemeinsam etwas voranbringt. Manche haben sich auch ein bisschen schwergetan, diese Verantwortung zu übernehmen in einem Unternehmen, in dem 25 Jahre ein Geschäftsführer alles alleine entschieden hat. Das ist auch ein Prozess, aber ich sehe den auf einem guten Weg.

Zum Schluss etwas persönliches: Hat Sie im neuen Amt irgendetwas überrascht? Hätten Sie irgendetwas anders erwartet?

Ich fange mal so an: Ich habe nicht einen einzigen Tag bereut. Ein bisschen habe ich auch mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich bin seit 20 Jahren kommunalpolitisch aktiv und mache das jetzt von einer ganz anderen Warte aus. Wenn ich mich an die Diskussionen im Vorfeld erinnere, dann habe ich natürlich überlegt, wie ich hier empfangen werde von den Mitarbeitern? Jede Befürchtung war unnötig. Das Zusammenspiel hat sofort funktioniert. In manchen Breichen müssen wir uns noch aneinander gewöhnen, weil ich eine andere Arbeitsstruktur habe. Ich habe Wiedervorlagen und frage auch nach. Zwei Wochen sind für mich eine lange Zeit, für andere nicht. Aber es klappt gut. Und wenn ich dem Feedback der Mitarbeiter glaube, dann finden die es auch gut. Wir merken öfter, dass wir Mappen aufschlagen mit Vorgängen, die drei, vier, fünf, sieben, zehn Jahre alt sind. Wir gehen sie jetzt zielorientiert an. Entweder machen wir einen Haken dran und sagen ,geht nicht', oder wir treiben es weiter. Das klappt sehr gut, ist aber auch nicht so viel anders als das, was ich früher gemacht habe. Natürlich tickt Verwaltung anders. Manche Dinge gehen in einem kleinen Laden einfacher. Wenn man Chef von zehn Mitarbeitern ist, ist das natürlich anders, als wenn einem 200 zugeordnet sind. Aber prinzipiell ist die Verwaltung gut strukturiert.

Hat es Ihnen geholfen, dass Corona und Causa Mang in der öffentlichen Diskussion ein wenig von Ihnen abgelenkt haben, nachdem der Anfang doch durchaus umstritten war?

Vielleicht. Wobei diese Umstrittenheit ehrlich gesagt relativ ist. Guckt man auf die Anzahl der Akteure, die dahinterstehen, dann brauche ich keine Hand, um sie aufzuzählen. Wenn ich sagte, dass das ,die Öffentlichkeit' ist, würde ich mich schwer abhängig machen.

Ralf Seemann kurz nach seiner Wahl im Satdtrat im November 2019. Hier gratulieren ihm der damalige Bürgermeister Michael Mang (links), OB Jan Einig (3. von rechts) sowie die Fraktionschef der Papaya-Koalition Karl-Josef Heinrichs (FWG), Martin Hahn (CDU) und Regine Wilke (Grüne).
Jörg Niebergall

Top-News aus der Region