Brüssel

Ungeahntes Ausmaß: Erkenntnisse nach Anschlägen in Brüssel

Foto: dpa

Dass bei den Ermittlungen in Belgien nach den Pariser Anschlägen nicht alles glattging, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Die jüngsten Erkenntnisse der Polizeiaufsichtsbehörde bringen jedoch Erschreckendes ans Licht.

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Von unserer Korrespondentin Mirjam Moll

Brüssel. Sie waren verdächtig, sie waren bekannt – und trotzdem sind sie den Behörden durchs Netz gegangen. Hinter verschlossenen Türen präsentierte das Komitee P, die Polizei der belgischen Polizei, einigen Abgeordneten des Parlaments, die ihrerseits eine Untersuchungskommission eingesetzt haben, gestern die bittere Wahrheit. Sie hätte die Opfer und Hinterbliebenen kaum härter treffen können. Sowohl unter dem Namen Ibrahim Abdeslam, der sich in Paris in die Luft sprengte und für den Tod von insgesamt 130 Menschen mitverantwortlich war, als auch dem seines Bruders Salah Abdeslam, der ihn und andere Attentäter nach Paris gebracht hat und der auch an der Planung der Brüsseler Attentate mit 32 Todesopfern beteiligt gewesen sein soll, wurden seit Januar 2015 Dossiers geführt. Der Tenor: Beide jungen Männer, die im Brüsseler Stadtteil Molenbeek aufwuchsen, standen unter dem Verdacht, sich radikalisiert zu haben und nach Syrien ausreisen zu wollen. Die örtliche Polizei verhörte die beiden. Doch dass sie aktenkundig waren, blieb ohne Folgen.

Denn die Bundespolizei übernahm den Fall – und entschied, ihn in die Kategorie Zwei einzustufen: „zu behandeln, wenn Mittel vorhanden“. Die Brüsseler Abteilung hatte sie zu diesem Zeitpunkt offensichtlich nicht. Gerade war eine gefährliche Terrorzelle im nahe der deutschen Grenze gelegenen Verviers ausgehoben worden, die Ermittler waren landesweit im Einsatz, ihre Kapazitäten erschöpft. Das Dossier Abdeslam wurde zu den Akten gelegt, versehen mit einem roten Aufkleber, der signalisierte, dass ein anderer Dienst sich damit auseinandersetzen solle. Es geschah: nichts.

Dabei führte eine ganz andere Ermittlung die Polizei ebenfalls zu Ibrahim Abdeslam. Es ging um Drogenhandel. Ein Computer und mehrere Mobiltelefone wurden beschlagnahmt, ihre Auswertung bei der Staatsanwaltschaft beantragt, aber abgelehnt: wieder wegen fehlender Mittel. Zu viele Personen zählten zu den Verdächtigen, die die Behörden Anfang 2015 im Visier haben. Kein anderes Land ist so sehr von der Anziehungskraft der Terrormiliz Daesh, die sich selbst IS nennt, betroffen. Hunderte junger Belgier machten sich auf, um in Syrien zu kämpfen. Sie alle 24 Stunden und sieben Tage die Woche abzuhören oder zu überwachen: unmöglich. Die Ermittler mussten eine Wahl treffen – es war die falsche. Das Dossier Abdeslam wurde einmal mehr ignoriert.

Im Juni 2015 prüfte man erneut, wie man mit dem Fall fortfahren wolle. Das Ergebnis: Er landete endgültig bei den Akten. Fünf Monate später sprengte sich Ibrahim Abdeslam vor dem Stade de France im Norden von Paris in die Luft. Salah Abdeslam trug ebenfalls einen Sprenggürtel, warf diesen aber in einen Mülleimer in der Nähe einer Metrostration – flüchtete schließlich zurück nach Brüssel, wo er zunächst unentdeckt blieb. Erst jetzt holten die Ermittler den beschlagnahmten Computer hervor, durchforsteten ihn. Nach Informationen des belgischen Nachrichtensenders RTBF jedoch ohne neue Erkenntnisse.

Erst Monate später gelang der Zugriff: Am 18. März wurde Salah Abdeslam in seinem Versteck in der Rue des Quatre-Vents in Molenbeek festgenommen. Vier Tage vor den verheerenden Anschlägen in der Metrostation Maelbeek und am Flughafen Zaventem. Später heißt es, eine Schießerei nach dem Pariser Vorbild sei geplant gewesen, das Blutbad sollte noch größer ausgefallen. Wäre Salah Abdeslam noch in Freiheit gewesen.

Unterdessen werden immer mehr Zweifel laut, ob der mutmaßliche Komplize der Brüsseler Attentäter, Khalid und Ibrahim El Bakraoui, sowie Najim Laachraoui, tatsächlich der festgenommene Mohamed Abrini ist. Zeit, sich damit auseinanderzusetzen, hatten die Ermittler nicht: Sie wurden unmittelbar nach dem Zugriff acht Stunden lang verhört – vom Komitee P.