Kommentar: Die späte Gerechtigkeit ist auch eine neue Chance für Serbien

Es war Völkermord, und Radovan Karadzic ist schuldig. 40 Jahre Haft bekommt er dafür, der 70-Jährige wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen. Dieses Urteil ist wichtig – für die Hinterbliebenen der Opfer, für die muslimischen Bosniaken, und es ist auch wichtig für Serbien. Denn das Land braucht eine intensive Aufarbeitung mit seiner jüngsten Geschichte, es muss sich mit den eigenen Verbrechen im Jugoslawienkrieg und den Folgen von Gewalt und Nationalismus beschäftigen.

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Stefan 
Hantzschmann über Karadzics Verurteilung

Viele Serben sehen ihr Volk nicht als Täter im Jugoslawienkrieg, sondern vordergründig als Opfer der „Nato-Aggression“ im Kosovokonflikt, als 1999 Bomben auf Belgrad fielen. Der nun verurteilte Radovan Karadzic wird von vielen bosnischen Serben in der Republika Srpska (eine Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina) noch heute als Held gefeiert. Das Urteil in Den Haag macht nun unmissverständlich klar, dass Karadzic verantwortlich für den Mord an Tausenden Menschen ist, auch wenn er vielleicht niemanden eigenhändig tötete.

Für die serbische Gesellschaft ist das Urteil die Chance, sich der eigenen Verantwortung zu stellen. Dazu gehört es auch, das Massaker von Srebrenica Völkermord zu nennen und nicht nur „schreckliches Verbrechen“, wie es der serbische Regierungschef Aleksandar Vucic tat. Nur so können sich die Beziehungen zum Nachbarn Bosnien-Herzegowina verbessern. Und davon würde der EU-Beitrittskandidat Serbien doppelt profitieren: Erstens gilt dies als Voraussetzung, um in die Union aufgenommen zu werden, und zweitens sind die Volkswirtschaften auf dem Balkan stark auf den Handel in der Region angewiesen. Ein guter Draht nach Sarajewo kann für die serbische Wirtschaft interessant sein.

Verurteilt
Radovan Karadzic im Gerichtssaal. Der heute 70-Jährige wurde 2008 nach 13 Jahren auf der Flucht festgenommen.
Foto: Robin van Lonkhuijsen

Die ersten Anzeichen sind ja nicht schlecht: Der serbische Regierungschef Alexander Vucic, selbst Sohn geflüchteter bosnischer Serben, hielt sich mit Kritik am Karadzic-Urteil zurück. Justizminister Nikola Selakovic sprach zwar von einem „bitteren Beigeschmack“, im Vergleich zur üblichen serbischen Rhetorik bei dem Thema ist das eine sehr milde Kommentierung des Urteils.

Was bedeutet das Urteil für Bosnien-Herzegowina? Vielleicht ein wenig späte Gerechtigkeit. Tatsächlich aber wird das Land weiterhin am stärksten unter den Folgen des Krieges leiden. Das Friedensabkommen von Dayton, das diesen Staat fast komplett reformunfähig macht, wird bestehen bleiben und in der Republika Srpska im Nordosten von Bosnien-Herzegowina haben die bosnischen Serben vor einer Woche ein neues Studentenwohnheim eingeweiht. Es trägt nun den Namen Radovan Karadzic.

E-Mail: stefan.hantzschmann@rhein-zeitung.net