Interview mit Ingrid Meyer-Legrand: Der Mut der Kriegsenkel

Von Christian Kunst
Sie schienen eine unbeschwerte Kindheit im Wohlstand zu haben, litten aber oft unter der Sprachlosigkeit ihrer kriegstraumatisierten Eltern: Die Kriegsenkel (Jahrgänge 1960 bis 1975) haben aus dem Trauma der Eltern gelernt und die Gesellschaft so tief geprägt.
Sie schienen eine unbeschwerte Kindheit im Wohlstand zu haben, litten aber oft unter der Sprachlosigkeit ihrer kriegstraumatisierten Eltern: Die Kriegsenkel (Jahrgänge 1960 bis 1975) haben aus dem Trauma der Eltern gelernt und die Gesellschaft so tief geprägt. Foto: imago/Rust

In ihrem Buch „Die Kraft der Kriegskinder“ beschreibt Ingrid Meyer-Legrand, wie die Kriegsenkel, zu denen vor allem auch die Babyboomer gehören, aus ihren Kindheitstraumata eine unglaubliche Kraft entwickelt haben. Unser Redakteur Christian Kunst hat mit ihr darüber gesprochen.

Lesezeit: 8 Minuten
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Frau Meyer-Legrand, Sie bezeichnen sich selbst als Kriegsenkel. Was ist Ihre Geschichte?

Ich bin das Kind eines Kriegs- und Flüchtlingskindes. Das sind die Jahrgänge 1928 bis 1946. Meine Mutter ist mit 13 Jahren aus Pommern geflohen. Daher war sie lange Zeit depressiv, traumatisiert von der Flucht.

Was haben Sie davon gespürt?

Meine Mutter war immer sehr erschöpft und wirkte nicht recht zugänglich für uns Kinder. Vom Krieg wollte meine Mutter nichts erzählen und hören. Sie war aber auch eine sehr streitbare Frau.

Wie haben Sie dann von der Geschichte Ihrer Mutter erfahren?

Für meine Examensarbeit im Geschichtsstudium zum Thema „Frauen in der Nachkriegszeit“ habe ich meine Mutter interviewt. Sie hat vom schnellen Aufbruch aus Pommern erzählt, der für sie sehr schlimm war. Sie war vor der Flucht auf einem Internat und besuchte das Gymnasium. Das war für sie als junges Mädchen nach dem Krieg nicht mehr möglich, denn ihre Eltern waren arm wie Kirchenmäuse. Weil die Familie sie nicht mehr ernähren konnte, musste sie bei einem Bauern arbeiten. Jede Hoffnung auf eine höhere Bildung war beendet. Das hat ihr das Selbstbewusstsein geraubt. Eine Ausbildung hat sie nie gemacht.

Wie würden Sie das Trauma Ihrer Mutter heute beschreiben?

Sie war mit 13 Jahren völlig allein. Plötzlich waren die gesellschaftlichen und familiären Strukturen, die ihr Halt gegeben hatten, nicht mehr vorhanden. Sie stieß bei ihren Eltern auf eine unglaubliche Armut, die sie wiederum aus ihrem Elternhaus herauskatapultiert hat. Das hat sie in noch ärmere Verhältnisse gestoßen. Ein ganz großes Trauma. Daraus ist ein permanenter Leistungsanspruch an sich selbst entstanden und letztlich etwas Depressives – und das in jungen Jahren. Depression bedeutet ja auch, dass sich jemand selbst zu viel abverlangt.

Was hat die Flucht mit Menschen wie Ihrer Mutter gemacht?

Die Geflüchteten wurden geächtet und mit Unkraut verglichen. Wie das Unkraut werde man auch die Flüchtlinge nicht mehr los, hieß es nach dem Krieg. Sie haben zum Teil in den ärmsten Verhältnissen leben müssen. Und ein großer Teil ist äußerst schlecht behandelt worden. Als meine Mutter schon verheiratet war, schob sie auf dem Bauernhof regelrecht Hunger. Die Bäuerin fragte sie, ob sie die Kartoffelschalen essen möchte. Ansonsten wollte sie diese den Schweinen als Futter geben. Das ist kein Einzelfall. Flüchtlinge wurden wie Schweine behandelt.

Wie unterscheidet sich dieses Schicksal von Kriegskindern aus ausgebombten Familien?

Auch von ihnen haben viele von heute auf morgen alles verloren, nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre nächsten Angehörigen. Sie waren plötzlich auf sich allein gestellt und mussten sich auch ganz neu orientieren. Oder sie wurden von Bomben aufgeschreckt und mussten die Nächte in Bunkern verbringen. Das kann ganz tiefe Spuren hinterlassen. Dann gibt es natürlich auch noch die ganz verheerenden Beispiele von Kriegskindern, die den Feuersturm in Hamburg oder Dresden erlebt haben. Das sind ganz grauenvolle Erfahrungen. Die halbe Stadt stand in Flammen, die Kinder mussten um ihr Leben rennen und mitansehen, wie Menschen verbrannten.

Wie hat sich dieses Leid auf ihre Kinder, die Kriegsenkel, übertragen?

Ich will weder die Kriegskinder noch ihre Kinder pathologisieren. Denn nur etwa ein Drittel der Kriegskinder ist schwer traumatisiert, andere haben keine Störungen, sondern eher Stärken entwickelt. Bereits die Kriegskinder haben dies bewiesen, indem sie ein Leben aus dem Nichts heraus entwickelten. Die Kriegskinder hatten spätestens Ende der 60er-Jahre wieder eine Anstellung und ein Heim. Sie haben außergewöhnliche Karrieren gemacht. Der Handelsvertreter der 60er-Jahre ist eine typische Nachkriegskarriere von Menschen ohne höheren Schulabschluss. Sie sind durchgestartet.

Und die Kriegsenkel?

Sie haben traumatisierte Eltern gehabt, die in ihrem Leid sehr um sich selbst kreisten. Sie konnten nicht wirklich Eltern für ihre eigenen Kinder sein. Die Kriegsenkel haben gespürt, dass die Eltern in Not waren, und sind eingesprungen. Sie waren Eltern für ihre Eltern. Das heißt im Fachjargon Parentifizierung. Darunter haben die Kriegsenkel sehr gelitten.

Wie?

Sie waren die Großen, die Manager der Familien. Ihre eigenen Bedürfnisse nach Schutz und Anleitung konnten die Eltern nicht so befriedigen, wie es Kinder brauchen.

Stimmt die Beobachtung, dass sich viele Kriegsenkel sehr schwertun mit Beziehungen, sehr spät heiraten und Kinder bekommen?

Ja. Die Erfahrung, kein Kind sein zu können, hat Folgen für die Gestaltung von Beziehungen, in schwächender und stärkender Hinsicht. Die Kriegsenkel haben im Umgang mit ihren Eltern gelernt, in Beziehungen permanent etwas leisten zu müssen. Sie mussten für die Eltern sorgen, nicht umgekehrt. Deshalb habe ich in meiner Praxis mit Menschen zu tun, die sich für beziehungsunfähig halten. Das lasse ich nie so stehen. Denn diese Menschen haben besondere Beziehungen, weil sie besondere Beziehungserfahrungen gemacht haben.

Sie müssen immer geben und können selten auch nehmen?

Ja. Die Kriegsenkel haben zugehört, sie haben getröstet, sie sagten, wo es langgeht. Sie wollten pflegeleichte Kinder sein. Sie haben nicht selbstvergessen spielen können, weil sie wussten, dass die Eltern nach ihnen guckten. Sie waren immer in Habachtstellung: Was ist mit den Eltern? Doch sie haben auch eine Kraft aus der Erfahrung in ihren Familien gewonnen.

Welche?

Sie haben früh gelernt zu spüren, was jemand braucht. Wir finden viele Kriegsenkel daher auch in sozialen Berufen oder dort, wo es um Recht und Gerechtigkeit geht. Ein Sinnbild der Kriegsenkel könnte die Sozialarbeiterin im Migrationsbereich sein. Und sie haben nicht nur Erfahrungen in ihren Herkunftsfamilien gemacht, sondern auch im Umgang mit der offenen Gesellschaft. Die Kriegsenkel waren diejenigen, die in den 70er- bis 90er-Jahren jung waren und die Gesellschaft mitgestaltet haben und es bis heute tun. Die Kriegsenkel sind maßgeblich am Wertewandel beteiligt. Sie haben sich zum Nabel der Welt gemacht. Sie haben alles und jeden danach befragt, was das mit ihnen zu tun hat. Da wurde eine beeindruckende Reflexionsfähigkeit entwickelt, die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung. Neue Lebensmodelle entstanden. Es wurde propagiert: Das Private ist politisch. Das war radikal.

Warum ist das radikal?

Die Kriegsenkel haben angefangen, die Gesellschaft über sich selbst zu verändern. Sie haben Schluss gemacht mit diesem Kadavergehorsam und haben alles infrage gestellt. Seitdem ist es möglich, dass man die Arbeit danach befragt, ob sie Sinn ergibt. Arbeit darf nicht mehr das gesamte Leben ausmachen. Es muss eine gute Balance zwischen Arbeit und Leben geben. Mehr noch: Die Arbeit wird als Teil des Lebens verstanden.

Ist es eine Generation in Therapie?

Ja, allerdings hat Therapie leider immer noch einen negativen Beigeschmack. Dabei zeugt dies vom Mut der Kriegsenkel, von ihrer besonderen Kraft zur Selbstreflexion und Selbstbefragung, die in die Gesellschaft hineinwirkt. Sie haben begonnen, ihr besonderes Erbe anzuschauen und zu ordnen, was davon weitergegeben werden kann und was besser nicht.

Ingrid Meyer-Legrand
Ingrid Meyer-Legrand
Foto: Europaverlag Berlin
Wie erklären Sie, dass das Trauma der Eltern so lang fortwirkt?

Traumata werden über Kommunikationsprozesse weitergegeben. Ein Trauma findet nicht im stillen Kämmerlein statt, sondern strömt in die gesamte Familie. Wenn jemand etwas sehr Schlimmes erlebt hat, bekommen die Angehörigen das mit, auch wenn darüber nicht gesprochen wird. Dies geschieht, indem Gespräche über die Vergangenheit ins Stocken geraten, über einen bestimmten Gesichtsausdruck, einen Blick. Da weiß man einfach, dass darüber reden nicht erlaubt ist. Da ist irgendwas ganz Schlimmes. Traumata werden auch über bestimmte Leit- und Glaubenssätze weitergetragen. Frauen zum Beispiel, die auf der Flucht vergewaltigt wurden, gaben häufig ganz spezifische Leitsätze an ihre Kinder weiter: Nimm dich vor den Männern in Acht! Und wir haben über die Parentifizierung ein bestimmtes Beziehungsmuster gelernt. Wenn Kriegsenkel sich das nicht bewusst machen, dann agieren sie weiter so mit anderen Menschen, wie sie es im Umgang mit kriegstraumatisierten Menschen gelernt haben. Das heißt, sie leisten immerzu in Beziehungen oder brechen sie deshalb häufig wieder ab. Dieses Entweder-Oder kann aber unterbrochen werden.

In welchen Beziehungen leben die Kriegsenkel?

In sehr diversen. In den 70er und 80er-Jahren durften Mann und Frau erstmals ohne Trauschein zusammenleben. Das haben die Kriegsenkel bewirkt. Das war ein Statement: Man muss nicht sofort heiraten. Man muss sich nicht sofort lebenslang binden. Kriegsenkel heiraten oft erst, wenn Kinder da sind, aber selbst dann nicht mehr unbedingt. Sie trennen sich schneller als ihre Eltern. Manche empfinden das als großes Defizit, manche als Gewinn. Einerseits wollen sie ankommen. Andererseits experimentieren viele bis heute mit ihren Beziehungs- und Lebensmodellen. Und sie nutzen die Möglichkeit, die ganze Welt bereisen zu können. Sie haben die Wahl, sich trennen und immer wieder neu anfangen zu müssen, aber auch zu dürfen.

Haben es Kriegsenkel schwer, bei ihren Eltern Gehör zu bekommen?

Der Dialog ist schwierig. Die Kriegskinder sagen: Was wollt ihr denn? Ihr habt doch im Gegensatz zu uns nichts Schlimmes erlebt. Kriegsenkel sind deshalb auch als Weicheier verschrien. Dass sie ihre Gefühle entdeckt haben, wird von den Eltern oft als Problem gesehen. Andererseits haben sich Kriegsenkel lange um ihre Eltern gekümmert. Oft haben sie immer noch oder wieder mit ihren alten Eltern zu tun. Man könnte meinen, dass dies doch in Anbetracht der Hochbetagtheit und Pflegebedürftigkeit vieler Eltern der Kriegsenkel ein ganz natürlicher Prozess ist. Aber eine Schwierigkeit der Kriegsenkel besteht darin, trotz des Leids oder des Traumas der Eltern ihr eigenes Leben zu beginnen. Eine etwaige Pflegebedürftigkeit der Eltern erschwert diesen Prozess häufig erneut. Viele Kriegsenkel haben Schuldgefühle, wenn sie sich und ihr Leben selbst ernst nehmen. Sie meinen, nur unter Aufgabe des eigenen Lebens das Leid der Eltern angemessen zu würdigen.

Macht das Kriegsenkel wütend?

Nein, eher ein wenig verzweifelt, weil sie durch und durch loyal sind. Zugleich sind sie sehr innovativ.

Die Kriegsenkel gehen bald in Rente. Was für Rentner werden das?

Mutige, aber auch unsichere. Weil sie nicht den wohlgeordneten Pfaden einer Normalbiografie folgten, wird die Rente bei vielen nicht üppig sein. Daher denken die Kriegsenkel neu über ihre Zeit als Rentner. Einige könnten sich selbstständig machen. Da sind viele Ideen unterwegs, Mehrgenerationenhäuser, neue Wohnkonzepte für alte Menschen. Die Kriegsenkel werden auch das Alter neu definieren.

Wie gehen die Kriegsenkel mit heutigen Flüchtlingen um?

Die Kriegsenkel sind sehr empathisch mit heutigen Kriegsflüchtlingen. Diese erinnern die Kriegsenkel an die Erfahrungen ihrer Eltern und den eigenen Umgang mit ihren kriegstraumatisierten Eltern. Denn: Für das Leid der Kriegskinder waren die Kriegsenkel zuständig. In unserer Gesellschaft durfte man lange Zeit nicht über das Leid der Deutschen sprechen, was angesichts der deutschen Gräueltaten auch nachvollziehbar war. Im Land der Täter durfte es keine Opfer geben. Das Leid wurde ins Private abgeschoben. Es besteht die große Gefahr, dass auch die neuen Geflüchteten keine Hilfe bekommen und wieder die nächste Generation dafür verantwortlich ist.

Reagieren Kriegsenkel auch zwiegespalten auf Flüchtlinge, weil diese das Land verändern und die Kriegsenkel doch nach Halt suchen?

Ich sehe eher, dass sich viele mit ihnen verbünden, weil sie sich selbst als noch immer auf der Flucht empfinden. Das Herumexperimentieren mit Lebensentwürfen hat die Kriegsenkel in gewisser Weise auch heimatlos gemacht. Deshalb haben viele den sehnlichen Wunsch, endlich anzukommen, im Leben, in der Gesellschaft. Es ist eine agile, nomadische Gesellschaft entstanden. Aus dem Grund diskutieren wir immer wieder über den Begriff Heimat. Wir müssen im Auge behalten, wohin der flexible Mensch driftet. Die Gesellschaft muss darauf achten, dass alle mitgenommen werden.

Wie geht es den Kriegsurenkeln?

Der Keim ist aufgegangen. Die Kriegsurenkel gehen mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein in die Welt. Das ist die Generation Y, und sie beansprucht ganz selbstverständlich, dass Arbeit Sinn und Spaß machen muss, dass das Leben nicht nur aus Arbeiten besteht. Das sieht man auch an der neuen Vätergeneration. Das sind starke Impulse, die von den Kriegsenkeln gesetzt wurden.

Das Gespräch führte Christian Kunst

Hintergrund: Eine neue Facette der Kriegsenkel-Debatte

Die Soldaten des Zweiten Weltkriegs sterben langsam aus. Und auch die Kinder des Krieges, die Jahrgänge 1928 bis 1946, werden immer betagter. Trotzdem sind die Traumata des Krieges immer noch präsent. Es ist das Verdienst der Kölner Autorin Sabine Bode, das Leid der Flüchtlings- und Kriegskinder in den Mittelpunkt einer großen gesellschaftlichen Debatte gerückt zu haben. Sabine Bode hat sich auch damit beschäftigt, wie sich diese Traumata auf die nachfolgende Generation, die Kriegsenkel, übertragen haben. Im Interview mit unserer Zeitung sprach sie im vergangenen Jahr von „Blockaden und Ängsten, die sich aus der eigenen Lebensgeschichte nicht erklären lassen“.

Eine neue Facette der Kriegsenkel-Debatte
Foto: Europaverlag Berlin
Die systemische Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand hat Sabine Bodes Gedanken eine neue Facette hinzugefügt: In ihrem Buch beschreibt sie, wie die Kriegsenkel, zu denen vor allem auch die Babyboomer gehören, aus ihren Kindheitstraumata eine unglaubliche Kraft entwickelt haben. Ingrid Meyer-Legrand arbeitet in Berlin als Coach und ehrenamtlich als Supervisorin in Flüchtlingseinrichtungen.

Am Mittwoch, 22. November, liest Ingrid Meyer-Legrand ab 18 Uhr in der Stadtbibliothek Koblenz auf Einladung des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge aus ihrem Buch „Die Kraft der Kriegsenkel“ (Europa-Verlag, 256 Seiten, 18,99 Euro). ck

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