Familien im Ausnahmezustand: Eskaliert jetzt die häusliche Gewalt?

Von Jan Drebes,
Corona macht soziale Arbeit schwieriger.
Corona macht soziale Arbeit schwieriger. Foto: dpa

Familien stehen in der Corona-Krise unter besonderem Druck. Schulen und Kitas sind geschlossen, die Kinder müssen zu Hause betreut werden, viele Eltern haben durch Kurzarbeit oder Auftragseinbrüche finanzielle Sorgen. Die Bundesregierung will deswegen gemeinsam mit den Ländern für finanzielle Unterstützung sorgen, wie Bundesfamilienministerin Franziska Giffey ankündigte.

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Entschädigung vom Staat

Dafür hat das Bundeskabinett beschlossen, dass es künftig eine besondere Lohnfortzahlung geben soll. Eltern von Kindern bis zwölf Jahren, die wegen der angeordneten Schul- und Kitaschließungen zu Hause bleiben müssen und dadurch Einkommen verlieren, bekommen Anspruch auf Entschädigung vom Staat. Gezahlt werden sollen 67 Prozent des Nettoeinkommens, aber maximal 2016 Euro im Monat für eine Dauer von höchstens sechs Wochen.

Anspruch haben nur diejenigen Eltern, die „keine anderweitige zumutbare Betreuung“ finden. Keinen Anspruch haben Erwerbstätige, die Kurzarbeitergeld bekommen oder andere Möglichkeiten haben, ihrer Arbeit „vorübergehend bezahlt fernzubleiben“, zum Beispiel durch den Abbau von Überstunden.

Giffey kündigte zudem an, dass der Kinderzuschlag künftig mehr Menschen erreichen soll. Wer abrupt sein Einkommen verliert, soll ab 1. April bis zum 30. September Antrag auf Kinderzuschlag stellen können. 185 Euro pro Kind und Monat sind dann möglich, die Berechnung erfolgt künftig anhand des Gehalts im Vormonat – nicht mehr anhand des Durchschnittsgehalts der vergangenen sechs Monate. Hat beispielsweise eine Paarfamilie mit einem Kind zwischen 1700 und 2100 Euro netto zur Verfügung, besteht Anspruch auf Kinderzuschlag – zuzüglich zum Kindergeld, das alle Eltern bekommen. Giffey verwies auf die Möglichkeit, den eigenen Anspruch online berechnen zu lassen, auch die Anträge können online ausgefüllt und eingereicht werden. Zudem stellte sie Lockerungen und Unterstützung beim Elterngeld und bei der Unterhaltspflicht von Menschen in Kurzarbeit in Aussicht. Um Familien zu helfen, will Giffey in den nächsten Tagen mit den Ländern verhandeln.

Die Opposition begrüßte die Beschlüsse der Regierung. Matthias Seestern-Pauly, familienpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, sagte: „Die geplante Anpassung des Kinderzuschlags befürworten die Freien Demokraten und ich ausdrücklich.“ Wichtig sei, dass die Gelder schnell und unbürokratisch fließen, denn die Familien brauchen jetzt Entlastung und nicht erst in einigen Wochen, sagte Seestern-Pauly, der auch Vorsitzender der Kinderkommission des Bundestags ist. Die FDP fordert zudem, die Beiträge für Hort, Krippen, Kindertagesstätten und Tagesmütter während der Corona-Krise auszusetzen.

Giffey warnte zugleich vor einer Zunahme häuslicher Gewalt. Dass momentan viele Menschen zu Hause sind und Familienmitglieder sehr viel Zeit auf engem Raum miteinander verbringen, könne zu einer Verschärfung von häuslichen Konflikten führen. „Das führt dann eben auch zu einer erhöhten Fallzahl, davon gehen wir aus“, sagte Giffey. Umso wichtiger sei es für potenzielle Opfer zu wissen, dass sie das Haus verlassen dürfen, um sich Hilfe zu holen. Das sei ein triftiger Grund. Auch telefonische Hilfsangebote sollen erreichbar sein und werden angesichts der Corona-Pandemie ausgebaut, sagte die Ministerin.

Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe geht laut einer Mitteilung ebenfalls davon aus, dass in der aktuellen Krisensituation mit starken Einschränkungen im öffentlichen Leben die Gefahr für Frauen und Kinder, häusliche und sexualisierte Gewalt zu erfahren, steigt. Die Befürchtung: Wenn durch die soziale Isolation Stressfaktoren innerhalb von Partnerschaften und Familien steigen und zudem durch die Einschränkungen zur Virusbekämpfung finanzielle Sorgen entstehen, kommt es vermehrt zu einer Eskalation in gewaltvollen Beziehungen. Das Phänomen ist auch aus den Weihnachts- und Osterferien bekannt. In keiner Zeit flüchten mehr Frauen, oft mit ihren Kindern, in Frauenhäuser. Auch Zahlen aus China bereiten den Beratungsstellen Sorgen. So meldete die Pekinger Frauenrechtsorganisation Weiping beispielsweise Anfang März, dass sich während der Corona-Quarantänemaßnamen rund dreimal so viele Betroffene an die Stelle gewandt haben als in einem vergleichbaren Zeitraum vor der Quarantäne.

Giffey rief Länder und Kommunen in Deutschland vor diesem Hintergrund dazu auf, sicherzustellen, dass es genügend Unterbringungsmöglichkeiten in Frauenhäusern gibt. Allerdings: Frauenhäuser – egal, in welchem Bundesland – kommen schon in normalen Zeiten an ihre Kapazitätsgrenzen. Beispiel Rheinland-Pfalz: Hier gibt es insgesamt 17 Frauenhäuser, ein weiteres ist in Planung. Laut der sogenannten Istanbuler Konvention des Europarates, an die sich auch Rheinland-Pfalz halten muss, soll pro 10.000 Einwohner ein Schutzzimmer bereitstehen. Die Realität sieht allerdings anders aus, wie der SWR ausgerechnet hat: Demnach kommen im Norden des Bundeslandes auf rund 1,2 Millionen Einwohner nur 15 Zimmer – also 100 Zimmer zu wenig.

Hilfsangebote im Internet

Wo Frauen und Mütter von Gewalt betroffen sind, sind es häufig auch ihre Kinder, warnt unterdessen der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers: „Der Druck auf die Familien wächst, zugleich entfallen viele Sicherungsnetze.“ Weil Kitas und Schulen mit ausgebildetem Fachpersonal zu und auch die Nachbarschaftskontakte unterbrochen sind, gebe es so gut wie keine soziale Kontrolle mehr. „Betroffene Kinder, Jugendliche und Elternteile können sich aber weiterhin zu jeder Zeit an die Nummer gegen Kummer wenden“, sagte Hilgers. Die ist bundesweit unter 116.111 erreichbar. Über die Internetseite www.nummergegenkummer.de bleibt das Beratungsangebot auch weiter bestehen.

Auch wenn Familien in einer Ausnahmesituation sind, warnte Hilgers vor Menschen, die sich im Netz als Kinderbetreuer anbieten. „Ich rate Eltern dringend davon ab, Kinder in die Obhut solcher Menschen zu geben, wenn sie die nicht kennen.“ Nicht umsonst hätten Kitas und Schulen Schutzkonzepte entwickelt, die Kinder vor physischer, psychischer und sexueller Gewalt schützen sollen. „Das Risiko ist zu groß“, sagte Hilgers.

Jan Drebes/

Angela Kauer-Schöneich

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Zwei Wochen, drei Wochen, vier Wochen zu Hause, mit immer den selben Menschen: Familien stehen angesichts der Corona-Krise in vielfacher Hinsicht vor Herausforderungen, wie die Paar- und Familienpsychologin Anne Milek von der Universität Münster sagt. „Das Stresslevel ist ungleich höher, weil der Alltag nicht mehr so eingespielt ist.“ Zur permanenten Betreuung der Kinder kämen vielleicht Existenzängste und Angst vor einem Jobverlust hinzu. Selbst wer gesund ist, sorgt sich um Alte und Kranke. Auch wenn der Zeitraum noch überschaubar scheint – „Urlaub ist das sicher nicht“.

Anke Lingnau-Carduck, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie, sagt: „Die Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie setzt die gesamte Welt unter Stress, und das wird auch in den Familien spürbar.“ So steige innerfamiliärer Ärger um Themen wie Spielekonsolen und Fernsehen. Doch die Forschung zeige, dass die meisten Familien angesichts von Krisen und Widrigkeiten eine innere Widerstandskraft entwickelten. Lingnau-Carduck berichtet von Lösungsansätzen. Familien sollten die Herausforderung von Langeweile annehmen und kreativ zu bewältigende Aufgaben für jedes Mitglied erfinden: „Jetzt ist eine gute Zeit zum Erlernen neuer Fähigkeiten, altersgemäß im häuslichen Miteinander“, sagte die Therapeutin. „Vielleicht kochen nach der Corona-Krise ja neuerdings die Kinder leidenschaftlich gern, der Papa hat das Malen für sich entdeckt, und die Mama hat Spaß und Ehrgeiz an einem digitalen Spiel gefunden.“

Ähnlich äußerte sich jüngst der Regensburger Neurowissenschaftler Volker Busch im Radiosender Bayern 3: Das zwangsweise Zusammenrücken könne eine Chance sein, Gemeinschaft wiederzuentdecken „und vielleicht dabei auch zu spüren, dass wir dafür die Tennishalle und das Fitnessstudio und das Kino eigentlich gar nicht brauchen“, sagte der Psychologe von der Uni Regensburg.

Von einer Chance spricht auch Sozialpsychologin Elisabeth Kals von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt: „Wichtig ist, das positiv zu nutzen.“ Die Familie könne sich überlegen, ob sie Nachbarn helfen kann. „Kinder können jetzt lernen, wie man mit Herausforderungen umgeht.“ Der Zusammenhalt zwischen den Generationen könnte intensiver werden.

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