Berlin

Das große Interview mit Peer Steinbrück: „Da ist etwas aus dem Lot geraten“

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SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück hat sich dagegen ausgesprochen, eine Große Koalition nach der Bundestagswahl mit einem formalen Parteibeschluss auszuschließen. Er selbst betonte zwar im Gespräch mit unserer Zeitung, ein erneutes Bündnis mit der Union sei nicht das, „was die SPD anstrebt. Ansonsten gibt es keine Veranlassung, Grundsatzbeschlüsse zu fassen, die langfristig ein Klotz am Bein sein können“, sagte Steinbrück im Interview mit unserer Zeitung.

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Für Peer Steinbrück fällt der Sommerurlaub in diesem Jahr aus. Der SPD-Kanzlerkandidat, hier im Interview mit unseren Berliner Korrespondentinnen Rena Lehmann (Mitte) und Eva Quadbeck, setzt darauf, dass die Wahl erst in den letzten Wochen vor dem 22. September entschieden wird.
Für Peer Steinbrück fällt der Sommerurlaub in diesem Jahr aus. Der SPD-Kanzlerkandidat, hier im Interview mit unseren Berliner Korrespondentinnen Rena Lehmann (Mitte) und Eva Quadbeck, setzt darauf, dass die Wahl erst in den letzten Wochen vor dem 22. September entschieden wird.
Foto: Georg Hilgemann/Newsimage
Demokratische Parteien müssten „prinzipiell miteinander koalitionsfähig sein“, sagte Steinbrück. Allerdings habe die SPD auch ihre „Erfahrung mit einer Großen Koalition gemacht“. „Wir waren der leistungsfähigere Teil und sind dafür aber nicht belohnt worden“, meint Steinbrück. Berichten vom Wochenende zufolge hatten mehrere SPD-Politiker einen formalen Ausschluss einer Großen Koalition gefordert. Dies würde die Wahlkämpfer in den eigenen Reihen besser motivieren. „Die SPD sollte überlegen, ob sie als Partei in Gänze der Union eine Absage erteilt“, hatte der rheinland-pfälzische Fraktionschef Hendrik Hering gesagt. Der Wiederaufbau der SPD dürfe „nicht unnötig aufs Spiel gesetzt werden“. Union und SPD hatten von 2005 bis 2009 gemeinsam regiert.

Das große Interview mit dem SPD-Kanzlerkandidat

Peer Steinbrück gibt sich locker und angrifflustig. Er freut sich vor allem auf das TV-Duell mit der Bundeskanzlerin. Noch ist nichts entschieden, meint der SPD-Kanzlerkandidat im Interview:

Sie reisen heute nach Rheinland-Pfalz, um mit Malu Dreyer über das Thema Pflege zu sprechen. Warum wollen Sie das zur Chefsache machen?

Weil wir in diesem Bereich erhebliche Defizite haben: Wir brauchen mehr Pflegepersonal, weil die Pflegebedürftigen mehr Zeit für Zuwendung brauchen. Deshalb wollen wir in den nächsten vier Jahren in Deutschland 125.000 zusätzliche, tariflich entlohnte Stellen für Pfleger schaffen.

Und wer bezahlt das?

Wir wollen das durch eine Erhöhung des Beitrags zur Pflegeversicherung um 0,5 Prozentpunkte finanzieren. Das ist eine gerechte und faire Lösung. Gleichzeitig geht es darum, ein Berufsbild „Pflege“ einzuführen.

Fährt ein Kanzlerkandidat eigentlich in den Sommerurlaub?

Ich mache jetzt einige Sommerreisen mit vielen Veranstaltungen. Aber es wird auch eine Woche geben, in der ich nicht unterwegs bin. Da werde ich noch mal Luft holen, und zwar zu Hause in Godesberg, ehe die heiße Phase Mitte August beginnt.

„Die Neugier der Menschen hat mich überrascht“, sagt der SPD-Kanzerlkandidat.
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Was hat Sie auf Ihren Reisen durch die Republik überrascht?

Die Neugier der Menschen hat mich überrascht. Ich habe festgestellt, dass die Themen, die die SPD setzt, durchaus die richtigen sind.

Wie weit ist die Wirklichkeit des Politbetriebs in Berlin vom Alltag der Menschen im Land entfernt?

Ziemlich weit! Die politisch-mediale Käseglocke in Berlin ist weit weg von den Stimmungen und Wahrnehmungen, die man im Land spüren kann.

Was tun Sie, um sich zu erden?

Ich führe ein ganz normales Leben. Ich kaufe selbst ein, fahre zu Verabredungen mit meinem Fahrrad, besuche meinen Friseur, rede mit Leuten. Die Vorstellung, dass Politiker vollkommen abgehoben leben und selbst nicht mehr für sich sorgen können, ist völlig falsch. Auf mich trifft das jedenfalls nicht zu.

Welche Themen brennen den Menschen denn auf den Nägeln?

Viele Menschen treibt der bröckelnde Zusammenhalt in der Gesellschaft um. Das hat sich mit der Banken- und Wirtschaftskrise noch mal verstärkt. Viele haben den Eindruck, da ist etwas aus dem Lot geraten, da wird gesellschaftlicher Zusammenhalt zersetzt. Das Bildungssystem ist nicht durchlässig, die Finanzausstattung vieler Kommunen ist marode. 7,8 Millionen Menschen arbeiten zu einem Stundenlohn unter 8,50 Euro. Das alles sind Symptome, die auf eine wachsende Spaltung der Gesellschaft in Oben und Unten hindeuten.

Gleichzeitig hatten noch nie so viele einen Arbeitsplatz …

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte lautet: Leiharbeit, Zeitarbeit, Werkverträge haben erheblich zugenommen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Jobs hat zwar auch zugenommen, aber nicht das Arbeitsvolumen insgesamt. Etwa 22 Prozent der abhängig Beschäftigten werden schlecht bezahlt und sind in unsicheren Verträgen.

Sie betonen das Thema soziale Gerechtigkeit. Warum ist es bisher trotzdem nicht zum Wahlkampfschlager geworden?

Warten Sie es ab! Die Strömung ist da, die Frage ist, ob sich das im Laufe eines Wahlkampfs noch konkretisiert. Die SPD hat 1998 rund 20 Millionen Wähler gehabt. 2009 hatte sie nur noch zehn Millionen Wähler. Wenn wir die Hälfte der Wähler von 1998 zurückgewinnen, dann gewinnen wir die Wahl.

Können Sie nachvollziehen, dass Menschen das Thema soziale Gerechtigkeit nicht mit Ihrer Person verbinden?

Ich glaube nicht, dass das so ist. Ich habe bereits 2002 in Nordrhein-Westfalen über die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft gesprochen. Mein Buch „Unterm Strich“ beschäftigt sich damit. Diese Neigung, mir Images anzuheften, die sich nicht belegen lassen aus meiner politischen Biografie, kann ich nicht nachvollziehen. Das sozial Gerechte ist in vielen Fällen auch das ökonomisch Vernünftige. Das habe ich immer vertreten, und das wird die SPD vermitteln.

Sogar die Grünen sind inzwischen skeptisch, ob sie mit der SPD eine Mehrheit bekommen ...

Sie werden immer einzelne Stimmen finden, die skeptisch sind. Mit den entscheidenden Repräsentanten der Grünen sind wir völlig klar: Wir wollen diese Bundesregierung ablösen. Die erste Nachricht ist doch, dass Frau Merkel zusammen mit der FDP keine Mehrheit mehr haben wird. Damit ist die schwarzgelbe Koalition am Ende. Das war’s dann mit der sogenannten „Traumkoalition“, die für viele Bürger ein Albtraum war …

Gibt es doch eine Große Koalition?

Das ist nicht das, was die SPD anstrebt. Und ich für mich persönlich habe das von Beginn an ausgeschlossen. Dem gibt es nichts hinzuzufügen.

Wäre es nicht sinnvoll, eine Große Koalition offiziell auszuschließen?

Die SPD sagt: Wir wollen keine Große Koalition. Wir schließen definitiv aus, eine Koalition mit der Linkspartei einzugehen oder auch, uns von denen tolerieren zu lassen. Ansonsten gibt es keine Veranlassung, Grundsatzbeschlüsse zu fassen, die langfristig ein Klotz am Bein sein können. Demokratische Parteien müssen prinzipiell miteinander koalitionsfähig sein. Wir haben 2005 bis 2009 unsere Erfahrung mit einer Großen Koalition gemacht. Wir waren der leistungsfähigere Teil und sind dafür aber nicht belohnt worden.

Was versprechen Sie sich von dem TV-Duell mit der Kanzlerin?

In der Mischung von Substanz und Unterhaltung und ein bisschen Witz kann ich mir schon vorstellen, dass das gut läuft. Es wäre naheliegend gewesen, zwei Duelle zu machen. Frau Merkel will das nicht. Sie wird schon wissen, warum nicht …

Das Gespräch führten Rena Lehmann und Eva Quadbeck