London

Blaue Wunder und Schwarze Löcher – ein Abend mit Stephen Hawking

In einer rosafarbenen Konzerthalle in der Hauptstadt eines hoch verschuldeten Inselkönigreichs auf einem ziemlich verwohnten blauen Planeten eines Sonnensystems am Rand der Milchstraßen-Galaxie in einem der vielen Trillionen Universen passiert um 20.30 Uhr Ortszeit am 20. Oktober 2010 etwas Besonderes: 5000 Menschen heben auf Aufforderung einer mechanisch klingenden Roboterstimme gemeinsam ab und reisen in Gedanken an den Beginn der Zeit und des elfdimensionalen Raums, um zu verstehen… dass sie nichts verstehen. Es war auch nicht so wichtig.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Von unserem Londoner Korrespondenten Alexei Makartsev

London – In einer rosafarbenen Konzerthalle in der Hauptstadt eines hoch verschuldeten Inselkönigreichs auf einem ziemlich verwohnten blauen Planeten eines Sonnensystems am Rand der Milchstraßen-Galaxie in einem der vielen Trillionen Universen passiert um 20.30 Uhr Ortszeit am 20. Oktober 2010 etwas Besonderes: 5 000 Menschen heben auf Aufforderung einer mechanisch klingenden Roboterstimme gemeinsam ab und reisen in Gedanken an den Beginn der Zeit und des elfdimensionalen Raums, um zu verstehen… dass sie nichts verstehen. Es war auch nicht so wichtig.

So stark ist die Magie des in einem unbeweglichen Körper gefangenen, mächtigen Geistes, dass der 68 Jahre alte Astrophysiker Stephen Hawking in London wie ein Popstar bejubelt wurde. Es war einer der seltenen öffentlichen Vorträge des an einen Rollstuhl gefesselten Genies, der die Briten wissen ließ: Trotz der rabiaten Sparmaßnahmen des Premiers David Cameron und des Abschieds von Wayne Rooney bei Manchester United müsse keiner verzagen. „Zwar sind wir unwichtig im kosmischen Maßstab, dennoch dürfen wir uns als Herren der Schöpfung fühlen“, sagte der Mann, der in seinem neuen Bestseller „Der große Entwurf“ Gott für überflüssig erklärt.

Es ist kompliziert mit Gott und dem Kosmologen. Hawking ist überzeugt, dass sich unser Universum selbst spontan erschaffen hat, doch dieser Gedanke gefällt vielen Gläubigen nicht, die den Professor scharf kritisieren. Also wird das kontroverse Thema schnell entschärft. „Stephen hat nie behauptet, dass Gott nicht existiere“, sagt der bekannte Physiker Jim Al-Khalili, als er den Star vorstellt. Wenn die Menschen den Grund, warum sie auf der Welt seien, „Gott“ nennen wollten, sei das in Ordnung. Viele wirken erleichtert. „Und nun“, sagt feierlich Al-Khalili, „kommt der weltgrößte Wissenschaftler“. Der Saal bebt vom Applaus, als eine Blondine im roten Kleid einen kleinen Mann im Rollstuhl hinausrollt. Sie fragt etwas den Professor und erhält keine Antwort – so scheint es. Tatsächlich aber hat der von der Nervenkrankheit ALS gelähmte Forscher durch das Zucken eines Muskels in der Wange auf dem Bildschirm seines Computers geschrieben: „Weniger Licht“. Dann bleibt er alleine auf der abgedunkelten Bühne. 5 000 Wissenschaftsfans und Voyeure, die den berühmtesten Behinderten der Welt erleben wollen, starren die verkrümmte Gestalt an. “Können Sie mich hören?” fragt die vertraute emotionslose Stimme, und die Zuschauer rufen erleichtert: “Ja!”

Hawking erzählt von seinen Eltern, dem Studium in Oxford und seinem brennenden Wunsch, das Rätsel unser aller Herkunft zu lösen. “Wenn man das Universum versteht, kann man es in gewisser Hinsicht kontrollieren”, sagt der “Word Plus”-Synthesizer für den Forscher, der 1985 seine Stimme verlor. Die Zuschauer in der Royal Albert Hall erleben ihr blaues Wunder: Dank seines Computers scheint Hawking dennoch frei „sprechen“ zu können. Doch es ist eine Illusion. Der Vortrag ist in seinem Laptop gespeichert. Auf der Bühne gibt der Physiker lediglich mit seiner Wange dem Rechner den Befehl, einen Textblock vorzulesen. Die erstaunlich effiziente Zusammenarbeit von Mensch und Maschine hat auch Nachteile: So kann Hawking nicht auf sein Publikum reagieren. Und in seinem Redefluss entstehen immer wieder unnatürliche Pausen.

Die morseähnlichen Bestätigungssignale des Computers klingen in der ehrfurchtsvollen Stille des Saals wie ein ferner S.O.S-Ruf aus dem All: „Wenn man…piep…mit der Möglichkeit eines frühen Tods konfrontiert wird, erkennt man…piep-piep-piep…wie viel man noch erledigen muss“. Zum Beispiel die „M-Theorie von allem“ formulieren. Mit der mühelosen Eleganz eines Supergehirns führt Hawking das Publikum ein in die verrückte Realität der Welt mit unzähligen Universen, von denen eine unser Leben gebar. Auf einer Leinwand leuchten Sternenstraßen, Schwarze Löcher und Feuerbälle. „Die Philosophie ist tot“. Es lebe der „große Entwurf“, erklärt Hawking. Manche schütteln verwirrt mit den Köpfen. Nach 90 Minuten kommt die Zeit für ein paar Fragen, die die Leser der „Times“ geschickt haben.

Jim Al-Khalili liest sie vor. „Ist das Schwarze Loch eine Kugel“, will ein Hobby-Astronom wissen. „Nein, es kann auch ringförmig sein“, liest Hawkings Computer die vorgefertigte Antwort vor. „Werden die Menschen jemals die Physik komplett verstehen?“. Ein Piepen. „Ich hoffe nicht…“, sagt Hawking, und als eine Pause entsteht, spricht er einen weiteren Satz in den lauten Applaus des Publikums hinein. Die blecherne Stimme geht unter. Schade: Wir werden nie erfahren, welches Geheimnis uns der Professor am Ende anvertraut hat.

Text, Foto & Videos von Alexei Makartsev