Berlin

Zankapfel Mindestlohn: Kommt er nun doch?

Kaum eine politische Debatte wird derart emotional geführt wie die über den gesetzlichen Mindestlohn. Die ideologischen Gräben sind breit, nun aber offenbar nicht mehr ganz so unüberwindbar wie einst. Liberale und große Teile der Union lehnten den Mindestlohn bisher ab, weil er Arbeitsplätze vernichten könnte.

Lesezeit: 4 Minuten
Anzeige

Für die SPD ist er dagegen die Wunderwaffe zur Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit und bester Schutz vor Altersarmut. Was spricht für, was gegen den Mindestlohn? Mit dem Vorstoß aus Thüringen, das von einer Großen Koalition unter der CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht regiert wird, kommt erneut Bewegung in eine Diskussion, in der sich nicht einmal die Wissenschaft einig ist.

Auch Wissenschaftler streiten über Für und Wider

Beim Institut zur Zukunft der Arbeit hat Direktor Hilmar Schneider viele Argumente gegen den Mindestlohn gesammelt. „Es ist alles gut gemeint, aber der Mindestlohn wird nicht die Wirkung haben, die man sich von ihm verspricht“, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. Seine Argumentation: Wenn er einmal etabliert ist, könnte der Mindestlohn schnell eine Eigendynamik entwickeln. „Dann kann er leicht politisch instrumentalisiert werden, und die Parteien überbieten einander künftig in Wahlkämpfen.“

Wie wenig jemand in Deutschland verdienen darf, ist nicht flächendeckend geregelt

In den neuen Bundesländern hat schon die Einführung von Branchenmindestlöhnen Arbeitsplätze gekostet, sagt Schneider. Beispiel Dachdecker: Im Westen ist dort ein Mindestlohn von 11 Euro kein Problem, im Osten dagegen schon. „Das hat viele Arbeitsplätze gekostet.“ Mindestlöhne helfen aus Sicht des Experten nur denjenigen, die nach der Einführung auch ihre Jobs behalten können. „Mindestlöhne sind Jobkiller“, sagt er deshalb. Eine weitere Befürchtung: Die Automatisierung von Arbeitsprozessen könnte sich beschleunigen, wenn die Löhne im bisherigen Niedriglohnbereich, etwa bei der Reinigung und in der Pflege, steigen.

Auch diese Entwicklung würde Arbeitsplätze vernichten. Deutschlands wirtschaftliche Stabilität in der Krise ist für den Arbeitsmarktforscher ein weiteres Argument gegen den Mindestlohn. „Wir werden überall für unser Jobwunder gefeiert. Wir haben zwar keinen gesetzlichen Mindestlohn, dafür aber eines der großzügigsten sozialen Sicherungssysteme der Welt. Selbst wenn ich gar nicht arbeite, erhalte ich etwa 700 Euro vom Staat“, argumentiert Schneider weiter.

Faktisch erzeuge dies bereits heute einen Mindestlohn. „Denn es macht keinen Spaß, sich 40 Stunden abzurackern, um am Ende des Monats nur ein paar Euro mehr in der Tasche zu haben, als man ohne Arbeit sowieso schon hätte.“

Von Niedriglöhnen sind außerdem vor allem die sechs Millionen Minijobber in Deutschland betroffen. Sie sind Schneider zufolge aber oft Zweit- oder Hinzuverdiener, für die es sich wegen der Befreiung von Steuern und Sozialabgaben lohnt, selbst für einen geringen Stundenlohn zu arbeiten.

„Menschen am unteren Rand des Lohngefüges würden von einem Mindestlohn profitieren“

Ein ganz anderes Argument hört man beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg, das auch die Bundesagentur für Arbeit berät. Dort sprechen sich Wissenschaftler inzwischen für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn aus. „Er kann nur dann zum Jobkiller werden, wenn er zu hoch ist“, sagt Joachim Möller, Direktor des Instituts.

Er sieht einen Spielraum dafür, einen Mindestlohn einzuführen, ohne dass Jobs verloren gehen. „Menschen am unteren Rand des Lohngefüges würden von einem Mindestlohn profitieren“, meint er und zieht als Beispiel Großbritannien heran. Dort hätte ein angemessener Mindestlohn von rund 50 Prozent des mittleren Lohns keine Jobverluste verursacht. In Frankreich dagegen hätte der Mindestlohn durchaus Arbeitsplätze gekostet, weil er zu hoch angesetzt war.

Ohne flächendeckenden Tarif gibt es immer neue Schlupflöcher

Regionale oder Branchenmindestlöhne hält Möller nicht für ausreichend. „Solange es keinen flächendeckend verbindlichen Mindestlohn gibt, wird es immer Nischen und Schlupflöcher geben“, ist der Arbeitsmarktexperte überzeugt. Das „Horrorgemälde“ von der Massenarbeitslosigkeit, die eine solche Regelung den Kritikern zufolge auslösen könnte, hält er für nicht mehr aufrechtzuerhalten. Er hält einen Mindestlohn auch deshalb für zeitgemäß, weil der Arbeitsmarkt sich in den vergangenen 20 Jahren stark verändert hat. „Gerade in den neuen Bundesländern sind nach der Wiedervereinigung große tariffreie Bereiche entstanden. Auch der stetig wachsende Dienstleistungsbereich ist zum Teil tariffrei.“ Hier könnte man vorsichtig einen Mindestlohn einführen, ohne dass Jobs verloren gehen.

Möller schlägt vor, die Höhe in Ost und West unterschiedlich festzulegen, um das auszuschließen. Das „Jobwunder“ hat aus Möllers Sicht wenig mit Niedriglöhnen zu tun. „Deutschland ist mit seinem Produktmix sehr wettbewerbsfähig. Und es profitiert von der Schwäche des Euro“, beschreibt er die Ursachen für die niedrige Arbeitslosigkeit. Inzwischen hat selbst der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, Offenheit für den Mindestlohn signalisiert. „Psychologisch wäre es vielleicht nicht schlecht, eine Grenze nach unten einzuziehen“, sagte er der „Welt“.

Von unserer Berliner Korrespondentin Rena Lehmann