Wohnformen im Land: Hand in Hand das Alter erleben

Miteinander und füreinander leben in der Koblenzer Boelckestraße drei Generationen unter einem Dach. Für die kleine Lea und ihre Mutter Sarah Frisch (daneben) ist es Alltag, gemeinsam mit ihren älteren Mitbewohnern im Garten Wäsche aufzuhängen oder Zeit zu verbringen.
Miteinander und füreinander leben in der Koblenzer Boelckestraße drei Generationen unter einem Dach. Für die kleine Lea und ihre Mutter Sarah Frisch (daneben) ist es Alltag, gemeinsam mit ihren älteren Mitbewohnern im Garten Wäsche aufzuhängen oder Zeit zu verbringen. Foto: Thomas Frey

In Koblenz leben junge Menschen und Senioren zusammen, in Marienrachdorf gibt es einen einzigartigen Bauernhof: Ministerin Malu Dreyer führte eine Gruppe Experten und neugierige Journalisten durchs Land, um ihr verschiedene Ansätze zu zeigen, wie altersgerechtes Wohnen aktuell und künftig aussehen kann.

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Koblenz: Auf dem Weg zum Seniorenprojekt lachen einem lustige Kindergesichter entgegen. Auf den Betonboden vor dem quaderförmigen Mehrparteienhaus in der Koblenzer Boelckestraße sind mit Kreide eine Reihe netter Figuren gemalt. Kleine Menschen mit fröhlichem Lachmund stehen zusammen mit den großen Strichmännchen.

Als Sozialministerin Malu Dreyer (SPD) mit ihrer Besuchergruppe um die Ecke biegt, lächeln ihr die Kreidegesichter entgegen. Die Zeichnung auf dem Betonboden ist ein symbolisches Begrüßungsbild. Denn im Wohnpark „Neue Boelcke“ ist es mehr als nur eine auf den Boden gemalte Idee, dass alte und ganz junge Menschen miteinander den Alltag gestalten.

Drei Generationen unter einem Dach

Ministerin Dreyer führt an diesem Tag eine Gruppe Experten und neugierige Journalisten durchs Land, um ihr verschiedene Ansätze zu zeigen, wie altersgerechtes Wohnen aktuell und künftig aussehen kann. Erst vor wenigen Wochen hat ihr SPD-Kollege, Landes-Fraktionschef Hendrik Hering, eine Debatte darüber angestoßen, dass es künftig keine neuen stationären Heimeinrichtungen für ältere Menschen geben soll.

Gegenüber unserer Zeitung hat Hering damals erklärt: „Wir treten dafür ein, dass keine großen stationären Pflegeeinrichtungen mehr gebaut werden.“ Und weiter: „Dieses Ziel deckt sich mit dem Wunsch der Bürger: Niemand will ins Altersheim.“ Die Menschen, die in der Koblenzer Boelckestraße leben, würden den letzten Satz Herings wohl sofort unterschreiben. Elf Parteien leben hier, 20 Menschen aus drei Generationen bestreiten den Alltag neben- und miteinander. Eineinhalb Jahre ist das jüngste Mitglied der Gemeinschaft, 78 Lenze zählt der älteste Bewohner.

Mieter-Casting: Erst ein paar Fragen – und dann gab's Kaffee und eine Wohnungsbesichtigung

Sarah Frisch erzählt mit einem fröhlichen Lächeln davon, wie sie 2009 mit ihrem Mann und ihrer Tochter in die „Neue Boelcke“ eingezogen ist. „Bei der Vorstellung saßen damals alle an einem langen Tisch, als wir reinkamen“, erinnert sie sich. Ihr Blick, das leicht schelmische Grinsen, erzählt den Rest. Es muss im ersten Moment ein bisschen wie bei einer dieser modernen Castingshows gewesen sein. „Es wurden erst einmal ein paar Fragen gestellt, wer wir sind, was wir machen und was wir in der Wohngruppe wollen – und dann wurde gemeinsam Kaffee getrunken und die Wohnung besichtigt.“

Die junge Frau steht neben der Sitzgruppe, die wie damals wieder im Garten vor dem Haus aufgebaut ist. Diesmal kommen hier die Ministerin und die Besuchergruppe mit den Bewohnern zusammen, wieder werden viele Fragen gestellt. Denn das Generationenprojekt in Koblenz gilt als Vorzeigeobjekt. Frisch erzählt, wie sie mit ihrer Familie hier angekommen ist, wie gemeinsam Feste gefeiert und Garten sowie Kräutergarten bewirtschaftet werden.

Sarah Frisch freut sich auf ihr zweites Kind in dieser Atmosphäre

Sarah Frisch spricht über ein besonderes Wohnprojekt, das zukunftsweisend für das Land sein kann. Die schwangere junge Frau freut sich darauf, hier ihr zweites Kind zu bekommen, weil sie weiß, dass jemand auf die Tochter aufpassen wird, wenn sie im Krankenhaus ist und ihr Mann arbeiten muss.

In der Boelckestraße, wo einst eine Kaserne stand, leben die Menschen wie eine große Familie zusammen: Die Jungen tragen den Älteren schon mal die Einkäufe und den Wasserkasten die Treppe hinauf, öffnen das klemmende Gurkenglas oder schlagen den Nagel in die Wand. „Gerade die älteren Damen trauen sich bei solchen kleinen Dingen oft nicht, um Hilfe zu bitten“, erklärt einer der Bewohner. Aber alle Mitbewohner sind grundsätzlich beim Du, da fragt es sich schon mal leichter.

Lange Warteliste für eine der Wohnungen

„Hier gibt es natürlich auch einmal Probleme wie in einer Familie“, sagt Ursula König, die zu den älteren Bewohnern der „Neuen Boelcke“ gehört. Aber seit die Wohnform 2006 gegründet wurde, konnten alle kleineren und größeren Probleme gelöst werden. Der Trägerverein „Miteinander – Füreinander“, der hinter der Wohngruppe steht und als Bindeglied zwischen dem Bauträger Koblenzer Wohnbau und den Bewohnern dient, hat inzwischen eine lange Warteliste für eine der Wohnungen. Es spricht sich herum, dass das Zusammenleben der Generationen gut funktioniert.

17 Senioren leben mitten im Dorf zusammen auf einem Bauernhof

Marienrachdorf: Ein ganz anderes Wohnprojekt für ältere Menschen stellt Ministerin Dreyer wenig später im Westerwald vor. In Marienrachdorf begrüßen bunte Hennen aus Metall die Gruppe, sie weisen den Weg in den Hof von „Haus Eiffler“ und dem „Bauernhof“.

17 Senioren leben hier mitten im Dorf zusammen, von ihren Balkonen blicken sie über die Dächer des 1025 Einwohner zählenden Ortes und auch auf den Stall der Wohngruppe, in dem Gänse, Hühner, Schweine und im Winter auch Kühe untergebracht sind. An diesem sonnigen Tag sind die Kühe auf der Weide, die Gänse jedoch schnattern ordentlich, als Balbina Adam sich den abgenagten Holzstock greift und die Tierchen an der Kirche vorbei auf die Wiese treibt. Sechs Gänse laufen der 88-Jährigen hinterher.

Es ist ein Bild des Vertrauens, vornweg die fröhliche, rüstige Dame, dahinter die munteren Langhälse. „Ich fühle mich sehr wohl“, sagt Adam. Dabei ist die Dame erst vor wenigen Wochen in das Haus eingezogen. Nach langem Zögern hat sie ihre Wohnung in der Kreisstadt Montabaur aufgegeben, um schließlich in diese Gemeinschaft zu ziehen, wie sie sonst wohl nur Studenten kennen: Jeder hat sein eigenes Zimmer, es gibt einen gemeinschaftlichen Essens- und Aufenthaltsraum, wer möchte, kann beim Kochen mithelfen oder eben auch die Gänse auf die Wiese treiben. Die Senioren sind, soweit sie dies können, in den Betrieb des Bauernhofes eingebunden.

Ein Haus für Natur- und Tierfreunde

„Meine Idee war, ein Haus aufzubauen, in das ich auch selbst als älterer Mensch einziehen würde“, sagt Guido Pusch. Der 39-Jährige agiert von seinem Heimatort aus als Unternehmer weltweit im Bereich erneuerbarer Energien und hat für den Umbau des fast 350 Jahre alten Hauses seiner Familie rund 600 000 Euro investiert.

Rundherum wurde saniert und ausgebaut und ein Senioren-Wohnprojekt entwickelt, das gerade für den ländlichen Raum beispielhaft sein kann. Natur- und Tierverbundenheit spielen hier ebenso eine große Rolle wie das dörfliche Miteinander der Menschen. „Wenn man früher zur Oma gegangen ist, dann war da immer etwas zu essen auf dem Herd“, sagt Pusch – dieses Gefühl von Heimat möchte er auch den Senioren vermitteln, die sich hier einmieten.

Pusch hat eine kleine Firma gegründet, um darüber die Einkäufe für den täglichen Bedarf „ohne die übliche Zettelwirtschaft“ abzuwickeln, ein ambulanter Dienst kümmert sich um die Pflege der Menschen. „Die Nachfrage nach solchen Projekten ist ständig steigend“, sagt Cornelia Licht, die mit ihrem Pflegedienst im Westerwald fünf ambulante Einrichtungen betreut. „Die Leute fühlen sich in solchen Gemeinschaften wohl“, sagt sie, „sie blühen hier wieder richtig auf.“

Projekte füllen Räume, die durch den demografischen Wandel ausbluten

Für Orte wie Marienrachdorf haben solche Projekte zudem den Vorteil, dass sie Räume füllen, die durch den demografischen Wandel immer mehr ausbluten. „Es ist gut, dass dadurch alte Häuser saniert werden und es weniger Leerstände gibt“, sagt Ortsbürgermeister Dieter Klöckner. Zwar sind die Genehmigungsverfahren hinsichtlich Details wie Brandschutzfragen bei Projekten mit alten Häusern gegenüber Neubauten anspruchsvoll, aber sie wirken gerade in kleinen Dörfern harmonisch.

Wer die Menschen in Marienrachdorf besucht, spürt, wie sich hier der Begriff Heimat für die 65 bis 95 Jahre alten Bewohner leben lässt.

Von unserem Redakteur Volker Boch