Windows 95: Fenster zum Massenmarkt

Sie nannten es Mitternachtswahnsinn: Am 24. August 1995 öffneten viele Computerläden in den USA nachts exakt um 0 Uhr ihre Türen, um die ersten Packungen mit Disketten oder CDs des neuen Microsoft-Betriebssystems Windows 95 unter die Leute zu bringen.

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Von Christoph Dernbach

„Ich musste das einfach kaufen“, sagte damals ein junger Mann dem lokalen Fernsehsender in Seattle. Das Kuriose daran: Er besaß noch nicht einmal einen PC. „Es ist so hip“, sagte er dem verdutzten Livereporter ins Mikrofon.

Das Windows-95-Fieber war ansteckend: Allein in den ersten sieben Wochen verkaufte Microsoft das Betriebssystem sieben Millionen Mal. Innerhalb eines Jahres waren es 40 Millionen. Mit dieser Software holte Microsoft-Gründer Bill Gates den Personal Computer (PC) aus der Nerd-Ecke und kam seiner Vision „Ein PC auf jedem Schreibtisch“ einen entscheidenden Schritt näher. 1995 wurden weltweit erst gut 60 Millionen Computer verkauft. Zehn Jahre später überschritt die Zahl der verkauften PCs weltweit erstmals die Schwelle von 200 Millionen, Microsoft hielt damals einen Marktanteil von mehr als 95 Prozent. Seinen Höhepunkt erlebte der PC-Markt im Jahr 2011 mit 365 Millionen Geräten. Seitdem zeigt die Kurve deutlich nach unten. Grund: Bei vielen Menschen hat das Smartphone oder ein Tablet-Computer die Funktion des PCs weitgehend übernommen.

Die halbe Welt stand Kopf

An das iPhone oder das mobile Betriebssystem Android war vor 20 Jahren noch nicht zu denken. Die Marketingkampagne zum Start von Windows 95 auf dem Firmencampus von Microsoft in Redmond setzte damals Maßstäbe. Den beiden Managern Brad Silverberg und Brad Chase war es gelungen, bei den Rolling Stones die Nutzungsrechte des Songs „Start Me Up“ für die Premierenfeier und TV-Spots zu besorgen. Zur Präsentation der Software vor 2500 Gästen wurde TV-Star Jay Leno aus Los Angeles eingeflogen. „Die halbe Welt steht kopf“, wunderte man sich in der renommierten Computerzeitschrift „c't“. „Ob im Funk, Fernsehen oder in der Zeitung, niemand kann den angeblichen Vorzügen von Windows 95 entgehen.“

Das Microsoft-System brachte eine neue dokumentenorientierte grafische Oberfläche mit, die viele Menschen überzeugte. Sie kam zwar den Besitzern eines Apple Macintosh irgendwie bekannt vor, für die meisten PC-Benutzer bot Windows 95 jedoch eine echte Premiere. Das System entfachte einen Upgrade-Boom – viele Computernutzer installierten das neue Windows. Denn im Vergleich zum Kommandozeilensystem MS-DOS und den ersten Windows-Versionen sah das neue Windows 95 so viel besser aus und war deutlich einfacher zu bedienen.

Mit einer verbesserten Version B konnte Windows 95 dann erstmals mit Festplattenpartitionen von mehr als zwei Gigabyte Kapazität arbeiten. Mit dieser Version wurde auch erstmals die USB-Schnittstelle unterstützt. Vor lauter Euphorie für Windows 95 übersahen die Kunden oft die Nachteile. Die Software bot nur eine schwache Sicherheitsarchitektur und war sehr anfällig für gefährliche Computerviren. Dieses Problem ging Microsoft erst neun Jahre später mit dem Service Pack 2 für Windows XP ernsthaft an.

Auch die Internetstrategie von Bill Gates für Windows 95 ging zunächst nicht auf. Gates hatte in der frühen Entwicklungsphase des Systems die enorme zukünftige Bedeutung des World Wide Web nicht vorausgesehen. Er glaubte damals an den Erfolg von Onlinediensten wie Compuserve oder AOL, die weitgehend in sich geschlossene Systeme darstellten. Erst als Netscape mit seinem Browser den Markt überrannte, erkannte Gates die Herausforderung.

Vier Monate nach der Premiere von Windows 95 rief Gates zu einem „Internet-Strategie-Workshop“ nach Seattle und änderte seinen Internetkurs um 180 Grad. Gates wählte einen außergewöhnlichen historischen Vergleich, um die neue Strategie von Microsoft zu verdeutlichen: Am Jahrestag des Überfalls Japans auf Pearl Harbour erinnerte er an den Kommentar des japanischen Admirals Yamamoto, „er fürchte, sie hätten (mit dem Überfall) einen schlafenden Giganten geweckt“.

Microsoft bedrohte Apples Existenz

Die neue Ansage von Gates lautete: „Heute ist das Internet die treibende Kraft bei allen Verbesserungen, die wir bei all unseren klassischen Produkten vornehmen.“ Microsoft verstrickte sich in einen schmutzigen Browserkrieg. Der Kampf gegen Netscape hätte fast zur Aufspaltung des Konzerns geführt, weil sich die Aufsichtsbehörden an umstrittenen Geschäftspraktiken von Microsoft störten. Zum Schluss blieb aber Netscape auf der Strecke.

Auch Apple kam mit dem Boom von Windows 95 in Existenznöte. Der damalige Apple-Boss John Sculley hatte vergeblich versucht, frühe Windows-Versionen als rechtswidrige Kopien von Apples Betriebssystem Macintosh gerichtlich untersagen zu lassen. Technisch steckte Apple in einer Sackgasse, aus der sich das Unternehmen erst mit der Rückkehr von Steve Jobs befreien konnte, der sein Next-Betriebssystem mitbrachte. Jobs nahm damals sogar die Hilfe von Bill Gates in Anspruch. Microsoft investierte 150 Millionen Dollar in Apple-Aktien und zahlte angeblich 100 Millionen Dollar für Urheberrechtsverletzungen. Dass Jobs Jahre später mit iPhone und iPad Microsoft Kopfschmerzen bereiten würde, war damals nicht abzusehen.