Koblenz

Wenn aus Kindern Islamisten werden: Koblenzer Sozialforscher zum Extremismus

"Wer bin ich?" - die Frage nach der eigenen Identität kann durchaus eine Rolle spielen, wenn sich Jugendliche radikalen islamischen Strömungen zuwenden. Das sagt der Sozialforscher Prof. Dr. Stephan Bundschuh. Foto:  dpa
"Wer bin ich?" - die Frage nach der eigenen Identität kann durchaus eine Rolle spielen, wenn sich Jugendliche radikalen islamischen Strömungen zuwenden. Das sagt der Sozialforscher Prof. Dr. Stephan Bundschuh. Foto: dpa

Und plötzlich war sie weg: Anfang 2015 machte eine 15-Jährige somalischer Herkunft Schlagzeilen. Das Mädchen, das bis dahin in Idar-Oberstein gelebt hatte, war im September 2014 ausgereist – mit dem 23 Jahre alten Bruder und der 19 Jahre alten Schwester. Ihr Ziel: die Kampfgebiete des Islamischen Staates in Syrien. Warum und wie kann die Gesellschaft etwas dagegen tun? Ein Interview mit dem Sozialforscher und Experten für Migrationspädagogik, Prof. Dr. Stephan Bundschuh von der Hochschule Koblenz.

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Wann und wie sich die jungen Erwachsenen und ihre kleine Schwester radikalisiert hatten, konnte hinterher niemand mehr so recht nachvollziehen. Die 15-Jährige, hieß es, sei eine unauffällige, gute Schülerin gewesen. Bis zu jenem Sommer vor zwei Jahren. Da habe sie sich immer mehr abgekapselt, auch einen Schleier getragen. Hätten das für ihr Umfeld, ihre Familie schon Alarmzeichen sein müssen?

Fälle wie dieser sind in Rheinland-Pfalz selten. Aber sie kommen vor. Nach Angaben des Innenministeriums ist unter den geschätzt 570 Islamisten, die es im Land gibt, eine „einstellige Zahl Minderjähriger“. Von den 16 Islamisten, die in den vergangenen Jahren nach Syrien oder in den Irak ausgereist sind, war den Angaben zufolge einer unter 18 Jahren. Wieso schließen sich junge Menschen radikalen islamischen Strömungen an? Und was kann die Gesellschaft in Deutschland tun, damit das nicht geschieht?

Herr Bundschuh, einige Ihrer Kollegen aus der Wissenschaft sprechen von „Islamismus als Jugendkultur“, von einer Parallele zu den Punks aus den 1980er-Jahren – ist die Radikalisierung jugendlicher Muslime also eine Art Protestbewegung?

Nun ja, die These der reinen Provokation wird der Ernsthaftigkeit nicht ganz gerecht – Attentate haben ja mit Provokation nichts mehr zu tun. Aber die These regt schon zum Nachdenken an. Es ist doch so: Womit provoziere ich als junger Mensch denn heute? Wenn ich eine Schnapsflasche vor der Schule trinke, provoziert das niemanden mehr. Wenn ich aber ein Kopftuch anziehe, steht die ganze Schule kopf – es gibt derzeit nichts Effektiveres, als so ein Tuch anzuziehen. Natürlich ist da häufig ein provokatives Element dabei.

Die Jugend ist auch eine Zeit der Rebellion und der existenziellen Krise. In dieser Existenzkrise stellt sich einigen Jugendlichen offenbar und legitimerweise der Islam als möglicher Weg zur Stabilisierung des eigenen Ichs dar. Problematisch wird das erst, wenn es zu einer ganz rigiden Religionsauslegung wie bei den Neosalafisten kommt. Interessanterweise setzen dann solche jungen Leute gerade strikte Autoritätsmuster als Rebellion gegen die Eltern.

Was macht denn den IS so attraktiv?

Den IS macht attraktiv, dass er sich als Akteur in der muslimischen Welt darstellt, der sich eindeutig und stark gegen den Westen positioniert und nichts mit den korrupten muslimischen Eliten zu tun haben will. Junge Leute, die sich in irgendeiner Form ohnmächtig fühlen, wollen auf der Seite der Macht sein, gleichzeitig muss es um eine „gerechte Sache“ gehen. Der IS spricht ganz gezielt ein Gerechtigkeitsempfinden bei jungen Leuten an, in Videos wird oft die im Krieg leidende Bevölkerung gezeigt. Mit den Gewaltvideos wird suggeriert, dass „Schuldige“ und „Böse“ auch tatsächlich bestraft werden. Das soll zeigen, dass nicht nur geredet, sondern gehandelt wird.

Und wo ist die Motivation, sich damit gemein zu machen?

Ich würde da verschiedene Gruppen unterscheiden: Da sind zum einen junge Menschen, die aus den Kriegsgebieten kommen und massiv von Kriegs- und Leidenserfahrungen geprägt sind. Sie kommen hierher und sind orientierungslos, erleben aber, dass sie auch hier hin und her geschoben werden. Dann begegnen sie einer Person oder Gruppe, die ihnen in irgendeiner Form die Welt noch einmal anders und scheinbar logisch erklärt. Dann kann so etwas wie eine Umkehrung ihrer ursprünglichen Absicht passieren – nämlich sich hier ein Leben aufzubauen.

Heißt das, wir verursachen die Radikalisierung selbst?

Tatsächlich ist es kontraproduktiv, wenn diejenigen, die hier ankommen, als Erstes hören, dass sie wieder abgeschoben werden sollen. Diese jungen Leute nehmen jegliche Angebote ja rapide an, zeigen eine richtige Schulbegierde – weil sie ermessen können, was es heißt, nicht zur Schule gehen zu können. Wenn Sie den jungen Leuten in den ersten Jahren keine Perspektiven geben, driften sie ab in Frustration und möglicherweise destruktive Gewalt und kriminelle Strukturen.

Und die anderen Gruppen?

Das sind zum einen die zum Islam Konvertierten und zum anderen die hier Sozialisierten, die in muslimischen Familien in Deutschland aufwachsen. Viele Jugendliche, die sich für salafistische Inhalte interessieren, kommen sogar eher aus Elternhäusern, in denen Religion gar nicht so eine Rolle spielt oder wo sie zwar traditionell im Alltag ausgeübt wird, aber ohne dass darüber richtig gesprochen wird.

Das heißt, hier herrscht so eine Art Religionsvakuum?

Ganz genau. In Deutschland wurde immer ignoriert, dass Menschen aus muslimischen Ländern tatsächlich Muslime sind. Die Leute, die hierherkamen, wurden unter ihren Nationalitäten gefasst, ihr Religionsbedürfnis wurde ignoriert. Die Hinterhofmoscheen sind ein typisches Symbol dafür: Da fehlte von Anfang an das Moment der Anerkennung. Dazu kommt dann noch der derzeitig von vielen herbeigeredete vermeintliche „Kulturkampf“ zwischen muslimischer und christlicher Welt. Und plötzlich werden die hier lebenden Jugendlichen ständig darauf verwiesen, dass sie Muslime sind, obwohl das für sie vielleicht gar keine Rolle gespielt hat. Auf einmal fragen sie nach, was es denn heißt, Muslim zu sein.

Und die Eltern haben keine Antworten oder nur sehr traditionelle. Dann treffen diese Jugendlichen auf deutschsprachige, anscheinend moderne salafistische junge Erwachsene, die ihre Probleme verstehen – und klare und schlichte Antworten haben. Viele Videos der Salafisten geben nicht umsonst Lebensratschläge: Wie kleide ich mich, was darf ich essen, mit wem darf ich Umgang haben? Die Salafisten laden zu einer Gruppe ein: Komm zu uns, du findest Gleichgesinnte, du bist akzeptiert – wir bieten dir Abenteuer, Freundschaft und Ernsthaftigkeit. Das sind klassische Jugendbedürfnisse, da geht es um die Ablösung von den Eltern, das Lernen und Leben in einer Clique und die Suche nach verbindlicher Autorität. Islamspezifisch ist das nicht.

Das heißt, es geht um eine Suche nach der eigenen Identität?

Es ist eine Reaktion auf den Status, der mir zugewiesen wird, und auf die Frage: Welche Chancen habe ich eigentlich? Muslimische Jugendliche machen in unserer Gesellschaft vehemente Diskriminierungserfahrungen, angefangen in der Schule, wo Lehrer sie in Schubladen stecken, wo sie darum kämpfen müssen, aufs Gymnasium gehen zu dürfen. Sie machen die Erfahrung, dass die individuelle Leistung keine Rolle spielt, sondern die Gruppenzuschreibung – das grenzt aus. Der Frust, der dann entsteht, lautet: „Ich habe mich angepasst, bin die Wege gegangen, von denen man mir sagte, dass sie zum Erfolg führen – und dann tun sie das eben nicht. Warum sollte ich mich hier also weiter anpassen?“ Da sie sich hier nicht mehr zugehörig fühlen, ordnen sie sich rigiden muslimischen Strömungen zu.

Das erinnert an die Diskussion um Sekten in den 1980er-Jahren ...

In der Tat gibt es da einige Parallelen zu Sekten als geschlossene Gruppen mit rigiden Vorschriften zur Lebensführung. Ein Erfahrungsaustausch mit Sektenberatungsstellen der Kirchen könnte da durchaus fruchtbar sein.

Das Gespräch führte Gisela Kirschstein

Stephan Bundschuh ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe an der Hochschule Koblenz. Zu seinen Lehr- und Forschungsschwerpunkten zählen Migrationspädagogik und Autoritarismus (Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und Gegenstrategien).