Wenig Rezepte für immer mehr seelisch Kranke

Ausgebrannt
Ralf Rangnick hatte eine Auszeit dringend nötig. Foto: DPA

Er war „körperlich am Ende“, ausgebrannt: Der Rücktritt des Schalke-Trainers Ralf Rangnick hat nicht nur die Bundesliga geschockt, sondern ganz Fußball-Deutschland. Doch der aufsehenerregende Fall des unter dem Erschöpfungssyndrom leidenden Fußballlehrers sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland viele namenlose Rangnicks gibt.

Lesezeit: 3 Minuten
Anzeige

Er war „körperlich am Ende“, ausgebrannt: Der Rücktritt des Schalke-Trainers Ralf Rangnick hat nicht nur die Bundesliga geschockt, sondern ganz Fußball-Deutschland. Doch der aufsehenerregende Fall des unter dem Erschöpfungssyndrom leidenden Fußballlehrers sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland viele namenlose Rangnicks gibt, ohne dass Gesellschaft, Politik, Betriebe und Kassen für sie schon ein geeignetes Rezept zur Hand haben.

Immer mehr Menschen sind betroffen: Die Zahl der Fehltage der Arbeitnehmer, die sich wegen psychischer Leiden krankschreiben lassen, steigt unaufhörlich. Das belegt die aktuelle Statistik der Barmer GEK. Demnach gab es 2010 in Rheinland-Pfalz rund 843 000 Arbeitsunfähigkeitstage von Beschäftigten in Rheinland-Pfalz wegen psychischer Erkrankungen. Das ist im Vergleich zu 2008 ein Zuwachs von 22 Prozent, gegenüber 2009 stieg die Zahl um 11 Prozent. Ähnlich sieht es bei den Fallzahlen aus, die 2010 bei 9700 lagen – 15 Prozent mehr als 2008 und 11 Prozent mehr als 2009. Allerdings ist die Entwicklung im Land sehr unterschiedlich: So stieg die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage in Koblenz von 2008 bis 2010 nur um 16 Prozent auf das allerdings hohe Niveau von 310 000, während es in Mainz um 25 Prozent auf den niedrigeren Stand von 156 000 nach oben ging. Ähnlich ist es bei den Fallzahlen, die in der Landeshauptstadt um 18 Prozent auf knapp 2000 stieg, während sie in Koblenz um 9 Prozent auf 3100 wuchs.

Die Zahlen des ersten Halbjahrs 2011 bestätigen diesen Trend nicht nur, er hat sich sogar noch verschärft: Demnach stieg die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage in Rheinland-Pfalz um 31 Prozent gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum 2008; bei den Fallzahlen gab es ein Plus von 27 Prozent.

Die Kosten für psychische Erkrankungen sind bundesweit explodiert. Zwischen 1993 und 2008 stiegen sie laut Statistischem Bundesamt von 19,1 Milliarden auf 28,7 Milliarden Euro. Bundesweit beruht mittlerweile jeder sechste Fehltag der Arbeitnehmer auf der Diagnose psychischer Leiden. Nach Angaben der Betriebskrankenkassen entfielen 1976 noch 46 Krankheitstage pro 100 Versicherte auf psychische Erkrankungen. Heute sind es 150 Tage.

Doch den hohen Fehltagen und Kosten stehen eine nur unzureichende Vorsorge und Früherkennung gegenüber. So schrieb die Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz den Unternehmern anlässlich des Jahresempfangs der Wirtschaft zu Beginn des Jahres Folgendes ins Stammbuch: „Die meisten Unternehmen haben die Konsequenzen eines Arbeitsschutzes, der die psychischen Belastungen im Auge hat, noch nicht genügend umgesetzt. Für Rückenschmerzen sind die Zusammenhänge mit einem ergonomischen Arbeitsplatz bekannt und werden berücksichtigt. Der Zusammenhang von Stress am Arbeitsplatz und psychischen Störungen ist ebenfalls bekannt, wird aber noch nicht selbstverständlich in den betrieblichen Gesundheitsschutz einbezogen.“

Zugleich warnt die Kammer Politik und Kassen vor einem drohenden Praxissterben, was noch längere Wartezeiten für Patienten zur Folge hätte. Zwölf Wochen betragen diese im Schnitt bundesweit. In Rheinland-Pfalz müssen sich die Patienten noch etwa zwei Wochen länger gedulden. „Nur die Hälfte der Psychotherapeuten führt überhaupt eine Warteliste, da in manchen stark real unterversorgten Gebieten sonst Wartezeiten von bis zu einem Jahr auflaufen würden“, sagt Sprecherin Gisela Borgmann-Schäfer.

Hintergrund ist, dass Rheinland-Pfalz zwar offiziell als überversorgt mit Psychotherapeuten gilt, aus Sicht der Kammer aber 24 von 28 Planungsbereichen im Vergleich zum Bundesdurchschnitt unterversorgt sind. Beispiel: Im Kreis Altenkirchen gab es im vergangenen Jahr 13 Psychologen je 100 000 Einwohner, halb so wenig wie der Bundesdurchschnitt von fast 26 je 100 000 Einwohnern. Laut Bedarfsplanung gilt der Kreis aber als deutlich überversorgt. Mit Folgen: Denn das neue Versorgungsgesetz soll ab 2012 dazu beitragen, solche angeblichen Überkapazitäten abzubauen. Die Kassenärztliche Vereinigung darf dann Psychotherapeutensitze aufkaufen. Zwar ist dies laut Borgmann-Schäfer derzeit nicht geplant. Aber die angebliche Überversorgung diene den Kassen weiter als Argument, um weitere eigentlich nötige Arztsitze strikt abzulehnen.

Aus Sicht der Kassen tragen die Psychologen selbst einen Teil der Schuld für zu lange Wartezeiten. Viele der Ärzte würden nur in Teilzeit arbeiten, obwohl die Bedarfsplanung eine Vollzeittätigkeit vorsehe. Der Kassenspitzenverband fordert: „Die Psychotherapeuten müssen ihre Praxisöffnungszeiten ausweiten.“ Außerdem setzen sich die Krankenversicherungen für mehr Kurzzeit- und Gruppentherapien ein, um mehr Patienten auf einmal versorgen zu können. Es scheint höchste Zeit, dass sich Politik und Gesellschaft mehr Gedanken machen über ein Thema, das bislang für viele als Tabu galt: die Psyche der Bürger.

Von unserem Redakteur Christian Kunst