Warten auf die schwarze Pest

Er ist ein Vorbote des drohenden Unglücks, der stattliche Vogel, dessen zitronengelber Kopf ein paar Zentimeter aus dem blauen Handtuch ragt, in das seine Retter ihn schützend eingewickelt haben. Ein Basstölpel, markante Ringe um die Augen, als trüge er eine Brille. Mit langem, spitzem Schnabel schnappt er nach den Fingern von Rebecca Dunne, einer Ornithologin, die ihm eine Ampulle mit Flüssignahrung in den Schlund schieben will. Irgendwann beruhigt er sich.

Lesezeit: 6 Minuten
Anzeige

Fotografen lassen die Auslöser klicken, an die dreißig Kameraleute drehen die Szene. Der Basstölpel, Morus bassanus, steht im Rampenlicht wie ein Superstar. Um ihn vorzuzeigen, hat der Wildlife Service zur Pressekonferenz in einen Lagerschuppen am Mississippi gebeten, einen Schuppen, der auf einmal provisorische Vogelrettungsstation ist. Zwei mobile Kliniken parken unterm Wellblechdach, eine lange Reihe von Waschbecken lässt an eine Großküche denken. Jay Holcomb vom International Bird Rescue Research Center, herbeigeeilt aus San Francisco, rechnet mit Schlimmerem als dem einen ölverkrusteten Basstölpel, den er waschen und retten konnte und den er präsentiert wie einen wertvollen Schatz.

Dieser Vogel hat Glück gehabt

„Hat Glück gehabt, der Bursche“, sagt Holcomb. Draußen im Golf von Mexiko landete der Vogel hilflos auf einem Boot der Küstenwache. Er war nach Fischen getaucht, pfeilschnell, in jähem Sturzflug, wie es seine Art ist, und hatte die dunklen Ölflecken dabei offenbar nicht wahrgenommen. Als der schmierige Brei sein Gefieder verklebte, funktionierte seine Schutzhülle nicht mehr. „Eine Stunde später, und er wäre tot gewesen“, glaubt Holcomb. Wie viele Vögel sein Team noch waschen muss, wagt er nicht mal zu raten. Allein auf Breton Island, knapp zwanzig Kilometer vor der Küste, brüten etwa dreitausend braune Pelikane ihre Eier aus. Folgt man den Satellitenbildern, dann ist die rostfarbene Brühe bereits ans Ufer des Eilands geschwappt. Niemand weiß, wie groß der Schaden ist. „Wir können nicht rausfahren“, bedauert Holcomb. „Zu hohe Wellen.“

Sehen kann man die Katastrophe am besten aus der Luft. Besser gesagt, man kann sie ahnen. Der Ölteppich, der sich nach dem Untergang der explodierten Bohrinsel Deepwater Horizon rasant ausbreitete, ist inzwischen zwar größer als die Insel Jamaika. Doch eigentlich ist es kein Teppich, sondern eine Aneinanderreihung schmaler, giftiger Bänder. In Venice, wo Louisiana endet und die Ölpest zuerst das Festland erreichte, kann man das Desaster riechen: Ein Gestank wie an einer Tankstelle weht vom Wasser herüber. Aber zu sehen ist nichts.

Hurricane Katrina konnte mancher Garnelen-Fischer noch ausweichen...

Im Delta gibt es keinen klassischen Strand, keine gerade Küstenlinie. Es gibt schilfgesäumte Sümpfe, die ins Meer ausfransen, nur per Boot erreichbar. Und da ein böiger Südostwind die Wellen höher als drei Meter auftürmt, liegen sämtliche Schiffe in den Häfen vor Anker. Venice tappt im Dunkeln. Man bangt, spekuliert, rechnet mit dem Allerschlimmsten. „Es ist wie beim Warten auf Katrina“, knurrt Shane Johnson. „Nur, dass es diesmal der Todesstoß wird.“

Johnson fängt Garnelen, seit er 15 ist, sein halbes Leben lang. 2006, in der ersten Saison nach Katrina, stellte er seinen persönlichen Rekord auf. So viele Garnelen gingen ihm ins Netz, dass er im besten Monat fünfzigtausend Dollar verdiente. Sein Vater Walter war klugerweise mit der „Pascaguola“, ihrem Boot, den Mississippi hinauf bis nach Baton Rouge geschippert, als der Hurrikan im Anzug war. Nach dem Sturm gehörten die Johnsons zu den wenigen, die noch ein intaktes Schiff besaßen, Krisengewinnler wie Bubba Gumps Shrimp Company im Film „Forrest Gump“, nur nicht ganz so krass.

Jetzt aber sieht Shane schwarz, rabenschwarz. Normalerweise beginnt Mitte Mai die beste Zeit, dann sind die Garnelen groß genug, dass es sich lohnt. Und ausgerechnet jetzt muss die Ölpest alles zunichte machen. „Dieses Timing, das ist ein böser Witz“, flucht Ivan Halvorson, ein Weltenbummler aus dem winterkalten Wisconsin, der nach dem Tsunami in Indonesien half und danach auf der „Pascaguola“ anheuerte.

Das Kürzel BP ist zum Schimpfwort geworden

„Was, wenn die Leute auf ewig keine Garnelen mehr aus dem Delta essen wollen, weil der Ruf des Deltas im Eimer ist? Was, wenn wir nie wieder Fuß fassen können in diesem Geschäft? Und warum das alles? Nur weil BP die vierhunderttausend Dollar für ein Notventil am Bohrror sparen wollte.“ Es ist ein Gerücht, beweisen kann es Halvorson nicht. Doch es trifft die Stimmung. Das Kürzel BP, für British Petroleum, in Venice ist es zum Schimpfwort geworden.

Schlichte Häuser auf Stelzen, kleine Häfen, hier und da Schrottberge und Hurrikanruinen – das ist Venice. Am Straßenrand stelzen Kraniche, gleich daneben riesige Öltanks. Nichts von Idyll, von Mark-Twain-Romantik. Neben der Fischerei ist die Ölindustrie größter Arbeitgeber, aber sie ließ für ihre Transportzwecke über die Jahre eben auch ein Netz schnurgerader Kanäle graben und sie später verkommen. Kanäle, die an den Ufern erodieren, immer breiter und flacher werden und ein gewachsenes Biotop genauso zerstören wie es die Ingenieure taten, die Amerikas mächtigsten Fluss zwischen Dämme zwangen, sodass er seine Sedimente nicht mehr im Delta abladen konnte. Alle zwanzig Minuten geht Land von der Größe eines Fußballfeldes verloren. So gesehen, ist die Ölpest nur ein letzter Sargnagel.

In der Schulturnhalle von Venice steht Vince Mitchell, von BP angeheuert als Katastrophenexperte, auf schwerem Posten. Er teilt Formulare aus. Vertragstexte. Wer unterschreibt, stellt seinen Kutter für ein paar Wochen – oder Monate, genau weiß das niemand – in den Dienst der Ölfirma. Die Fischer sollen aufs Meer fahren, um schwimmende Barrieren zu legen, vergleichbar mit Ketten aufgeblasener Luftmatratzen. „Na, ob das wohl was bringt?“, zweifelt Vi Do, ein Vietnamese, der am Mekong aufwuchs, nach Boston auswanderte und schließlich am Mississippi landete, weil er die grimmigen Schneewinter des Nordens nicht ertrug. „Bei schwerer See schlagen die Wellen da wohl einfach drüber. Und mit ihnen das Öl.“ Egal, BP ist bereit, pro Tag und Boot 1500 Dollar zu zahlen. Andere Arbeit gibt es nicht. Vi Do braucht das Geld. Er muss einen Kredit abstottern, vierzigtausend Dollar, für die er sich ein neues Schiff gekauft hat. Das alte hat Katrina auf dem Gewissen.

Wie lange die Aufräumarbeiten dauern? Genaue Schätzungen sind unmöglich

Garantieren kann Mitchell freilich nichts. Wie viele Leute er braucht, wie lange der Einsatz dauern soll: Wie soll er das wissen, wenn nicht mal feststeht, wie viele Tonnen Rohöl aus dem Leck am Meeresboden sprudeln und Thad Allen, der zuständige Admiral der Küstenwache, am Sonntag einräumt, dass jede halbwegs genaue Schätzung unmöglich ist. „Glaubt mir, Leute, ich nehme euch nicht auf den Arm. Ich bin seit über zwanzig Jahren im Öllachen-Business“, wirbt Mitchell. Schon 1989 war er in Alaska dabei, nachdem der Tanker Exxon Valdez mit rund 200 Millionen Tonnen Rohöl auf Grund gelaufen war. „Wir verwenden dieselben Verträge wie damals, wir haben da große Erfahrung.“ Die unfreiwillige Komik, die in seinen Worten liegt, bemerkt Mitchell nicht.

Als er das Kleingedruckte erklärt, kippt die Stimmung, von höflicher Skepsis in helle Entrüstung. Die Fischer sollen den Diesel, den sie sie für ihre Fahrten zum Barrierenlegen brauchen, erst einmal selber bezahlen, später will BP die Kosten erstatten. „Was denn, was denn?“, schallt es von der Turnhallentribüne. „Ihr habt uns das eingebrockt, und wir sollen in Vorkasse gehen, damit wir eure Suppe auslöffeln?“

Jerome Jones, ein sehniger Schwarzer, Kapitän des Kutters Talibah II, klingt so nachdenklich wie ein guter Wissenschaftler, als er in Pointe a la Hache, der Hochburg der Austernzüchter, die Folgen des Desasters abwägt. „Wie lange werden wir leiden? Drei Jahre? Fünf Jahre? Niemand weiß es. So was gab es ja hier unten noch nie.“ Ein paar Optimisten glauben, dass sich das Gros der Ölpampe durch Enzyme zersetzen lässt und der Schaden am Ende geringer ausfällt, als die meisten heute glauben. Jones dagegen denkt an Schilf und Uferschlamm. „Hätten wir Felsen hier, könntest du das Zeug wegkratzen. Aber wie kriegst du es raus aus dem Schilf? Was der Käpt'n genau weiß, ist, wie er sich fühlt, nach Katrina gerade wieder auf die Beine gekommen und nun ein zweites Mal zu Boden geschlagen. “Es ist, als hätte dir jemand ins Bein geschossen. Das Blut läuft und läuft, und du weißt nicht, wann du verblutest.„

Für alle gilt: Daumen drücken!

Jay Holcomb, der Vogelretter, merkt gar nicht, wie oft er den Mittelfinger seiner Rechten hinter den Zeigefinger klemmt und dazu jedes Mal “fingers crossed„ sagt. Auf Deutsch hieße es Daumen drücken. Ein bisschen Hoffnung schöpft er daraus, dass das Wasser im Golf wärmer ist als vor Alaska, wo nach der Havarie der Exxon Valdez zehntausende Vögel und Seeotter einen qualvollen Tod starben. In warmem Wasser, erklärt der Ornithologe, kann ein Vogel zwei Tage mit ölverschmierten Federn überstehen, vielleicht, bestenfalls. Es ist ein schwacher Trost, Holcomb weiß das. “Sagen wir so: Es muss immer auch ein Stück Hoffnung geben."

RZ-Amerika-Korrespondent Frank Herrmann aus Venice (Louisiana)