Ulbrichts Mauer lebt bis heute weiter

Wie sage ich es dem Kinde? Dass da mal eine Mauer in Berlin war, die Ost und West trennte. Eine Mauer, die man meist nur noch erahnen kann. Und dass es noch Dutzende solcher Mauern überall in der Welt gibt – im nordirischen Belfast, in Palästina oder Korea. Wie sage ich es dem Kind des Mauerfalls, dass Verblendung, Hass, Angst vor dem anderen, vielleicht auch die Hoffnung auf eine bessere Welt die Menschen dazu treibt, Mauern zwischen sich zu bauen?

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Wie sage ich es dem Kinde? Dass da mal eine Mauer in Berlin war, die Ost und West trennte. Eine Mauer, die man meist nur noch erahnen kann. Und dass es noch Dutzende solcher Mauern überall in der Welt gibt – im nordirischen Belfast, in Palästina oder Korea. Wie sage ich es dem Kind des Mauerfalls, dass Verblendung, Hass, Angst vor dem anderen, vielleicht auch die Hoffnung auf eine bessere Welt die Menschen dazu treibt, Mauern zwischen sich zu bauen?

Vielleicht mit diesen zwei Geschichten: Als ich fast so alt war wie das Kind des Mauerfalls, da kletterte ich über den Schlagbaum am Brandenburger Tor. Ich wollte mir die Mauer näher anschauen, damals im August 1989. Ein aufgeregter US-Soldat, bewaffnet mit einer Maschinenpistole, hielt mich von meinem Vorhaben ab. Mit grimmiger Miene verwies er mich zurück hinter die Schranke. Vier Monate später feierte ich unter dem Brandenburger Tor ein freudetrunkenes Silvesterfest. Ost und West stießen an auf die Sensation des Jahrhunderts – den Mauerfall.

Mauern, lernte ich damals, sind nichts Unverrückbares, sondern etwas von Menschenhand Geschaffenes. Über die Jahre brennen sie sich in den Alltag der Menschen. Sie werden zu etwas Normalem, das man glaubt, verteidigen zu müssen. Wie der Amerikaner am Brandenburger Tor, der uns Deutschen doch die Freiheit und Grenzenlosigkeit bringen wollte.

Aber Mauern können auch wieder verschwinden, wenn – in Anlehnung an Michail Gorbatschow – die Voraussetzungen für ihren Bau entfallen. Das war 1989 so: Die DDR siechte dahin, die Sowjetunion hielt ihre schützende Hand nicht mehr über den Staat, der seine Bürger einsperren musste, damit sie ihm nicht den Rücken kehrten. Dieser nicht enden wollende Aderlass wurde am 13. August 1961 notdürftig mit Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Mauer gestoppt. 2,5 Millionen Menschen hatten den Arbeiter- und Bauernstaat bis 1961 verlassen, vor allem die Intelligenzija, gegen die das Ulbricht-Regime gern Stimmung machte, die es aber doch so sehr brauchte beim Aufbruch in die „neue Zeit“. 155 Kilometer lang war der „antifaschistische Schutzwall“ rund um Westberlin, 1400 Kilometer die innerdeutsche Grenze.

Jetzt blutete die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr aus. Dafür ließen mindestens 136 Menschen ihr Leben an der Mauer. Der mentale Blutzoll war noch größer: Mit jedem Jahr Gefängnis büßte die DDR ein Stück Vertrauen bei ihrem Volk ein. 1989 war es vollends aufgebraucht. Die Menschen rissen die Mauern wieder ein.

Die zweite Geschichte spielt in einer Stadt tief im Westen der Republik, zehn Jahre nach der Wiedervereinigung. Dort traf ich einen Kollegen von einer anderen Zeitung. Als er erfuhr, dass ich als Journalist im Osten arbeite, fragte er mich: „Und wie lebt und arbeitet es sich so in der Zone?“

Damals lernte ich, dass Mauern zunächst in den Köpfen entstehen und dort meist lange bleiben. Als SED-Chef Walter Ulbricht die Idee von einer Mauer ausbrütete, lagen dem tief verwurzelte Ignoranz gepaart mit Unwissenheit über den angeblichen Klassenfeind und ideologische Verblendung zugrunde. Seine nur mithilfe von Sowjetführer Nikita Chruschtschow durchsetzungsfähige Entscheidung für den Mauerbau war nicht nur ein feiger Offenbarungseid der angesichts nicht endender Flüchtlingsströme hilflosen DDR-Führung. „Ohne Mauer konnte die DDR nicht leben, mit der Mauer auch nicht mehr“, hat es Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) treffend ausgedrückt.

Durch den Bau der Mauer hat Ulbricht vor allem große Schäden in der deutschen Seele angerichtet: 28 Jahre getrennte Biografien – die einen sozialisiert in einem vormundschaftlichen Unterdrückerstaat, die anderen in einem freiheitlich-demokratischen Staat – haben einen tiefen Riss hinterlassen. Noch immer reisen Westdeutsche deutlich seltener in den Osten der Republik als die DDR-Bürger in den Westen. Viele Wessis waren gar noch nie in Greifswald, Dresden oder Leipzig. Sozialpsychologen wie der renommierte Hans-Joachim Maaz gehen davon aus, dass es erst der nächsten Generation gelingen wird, die tiefen Gräben zwischen Ost und West zu schließen, um eine gesamtdeutsche Identität zu schaffen.

Gefordert sind also die Kinder des Mauerfalls, die steinerne Wälle in Deutschland nur noch vom Hörensagen kennen. Limes und Berliner Mauer werden so vielleicht zu reinen Notizen im Geschichtsbuch. Und vielleicht erinnert sich diese Generation an ein chinesisches Sprichwort: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“