Moskau/München

Ukraine: Wer schafft Fakten?

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande sprechen in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine neue Friedensinitiative für die Ostukraine.
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande sprechen in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine neue Friedensinitiative für die Ostukraine. Foto: dpa

Die Dramatik der Situation in der Ukraine ergibt sich schon daraus, wie schnell Angela Merkel den Hebel von Abwarten auf Aktion umgelegt hat. Wochenlang verneinte sie die Fragen, ob es jetzt Zeit für einen Sondergipfel der beteiligten Staats- und Regierungschefs in der Region sei, versehen mit dem Hinweis „noch nicht“.

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Von unserem Berlin-Korrespondenten Gregor Mayntz

Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande sprechen in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine neue Friedensinitiative für die Ostukraine.
Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident François Hollande sprechen in Moskau mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über eine neue Friedensinitiative für die Ostukraine.
Foto: dpa

Daraus ließ sich die Einschätzung ablesen, dass sich die Dinge in die richtige Richtung entwickelten und es nur noch auf ein bisschen Entgegenkommen Russlands oder der ostukrainischen Separatisten ankomme, um den Sack am Konferenztisch zuzubinden.

Doch plötzlich hatte die Kanzlerin nicht einmal mehr jene 48 Stunden Geduld, bis sie bei der Sicherheitskonferenz in München Ukraines Präsident Petro Poroschenko treffen würde. Nein, sie brach am Donnerstag bereits zum Blitzbesuch in die Ukraine auf, um mit ihm durchzusprechen, was der Westen Seite an Seite mit der Ukraine Russlands Präsident Wladimir Putin gleich am Freitag anbieten könne, um den eskalierenden Krieg in der Ukraine zu stoppen. Das hätte sie am heutigen Samstag auch in München tun können, denn im Bayerischen Hof ist auch Russland mit einer hochrangigen Delegation präsent.

Die Eile erklärt sich aus der Sorge um einen völligen Zusammenbruch der Ukraine. Und in München sind genügend Experten beisammen, die in den vergangenen Wochen und Monaten Erfahrungen mit den Zuständen in der Ukraine sammeln und mit Geheimdiensterkenntnissen anreichern konnten.

Daraus ergibt sich ein verheerendes Ungleichgewicht zwischen zu allem entschlossenen und mit modernsten und schwersten Waffen ausgerüsteten Separatisten und regulären ukrainischen Streitkräften, die von den monatelangen Gefechten erschöpft sind, von professionell vorrückenden Separatisten eingekesselt werden und unter Korruption und Fahnenflucht leiden. So seien dem Aufruf zur Mobilmachung in mancher Stadt von 300 einberufenen Männern nur 40 gefolgt – die anderen geflüchtet. Manche setzten sich in die osteuropäischen Länder ab, manche sogar nach Russland, was die Dinge zusätzlich verkompliziert.

Merkel hat es also mit einer katastrophalen Defensivposition zu tun. Ein Vorschlag, die Ostukraine nach dem Vorbild von Transnistrien in Moldawien am Ende eines blutigen Konfliktes als Gebiet mit Sonderstatus herauszulösen, wäre damit eine Option, die einerseits Putin und seinen Separatisten nicht genügen könnte, da sie auf dem Boden dabei sind, viel weiterreichende Fakten zu schaffen und möglicherweise noch weitere Gebiete der Ukraine zu überrollen.

Andererseits könnte dieses Zugeständnis zu viel für Poroschenko sein und durch einen Proteststurm gegen seine Nachgiebigkeit zu seinem Sturz führen. Vielleicht setzt Putin genau darauf. Denn er hatte mit seiner Doppelstrategie bislang viel Erfolg: Am Verhandlungstisch immer wieder Mäßigung und Waffenstillstand zusagen und dann in der Wirklichkeit weiter militärisch andere Fakten schaffen (lassen).

Selbst wenn es Merkel gelingen sollte, aus dem heißen Krieg einen eingefrorenen Konflikt zu machen, ist die Ukraine damit nicht gerettet. Geldgeber schaudert das Ausmaß an Korruption. Für den Bau eines relativ einfachen Gebäudes durch die internationale Gemeinschaft seien bis zu 300 Genehmigungen nötig, und jede zweite müsse „geölt“ werden, sei also nur gegen Bestechungsgeld zu haben.

Andere berichten von diskreten Waffenlieferungen, die aber zum Teil nur kurzfristig den regulären Streitkräften zur Verfügung stünden, weil die Gliederungen vor Ort nicht immer den finanziell bestens ausgestatteten Separatisten widerstehen könnten, die gutes Geld für gutes Material böten.

Vor diesem Hintergrund ging Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) demonstrativ auf Distanz zu US-Überlegungen, durch Waffenlieferungen ein Gegengewicht gegen die von Russland unterstützten Separatisten aufzubauen. Der potenzielle Nachschub für die Separatisten sei unbegrenzt, und damit bedeuteten mehr Waffen nur noch mehr Tote, aber keine Lösung.

Teilnehmer berichten von einem heftigen Ringen um die Ukraine innerhalb der US-Regierung. Präsident Barack Obama sehe sich immer stärker unter Druck, durch nur halbherziges Handeln und die Selbstbeschränkung auf das Liefern von Nachtsichtgeräten und Schutzwesten Putin ermutigt zu haben, immer weiter zu gehen. Es sei überfällig, dem Kremlchef ein unmissverständliches Stoppzeichen entgegenzustellen, wenn Obama nicht als Schwächling in die Geschichte eingehen wolle, der die Freiheit Osteuropas dem Machtstreben Wladimir Putins geopfert habe.

Auch wenn Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg das Baltikum nicht gefährdet sieht, sondern nur ein „verändertes und sich weiter veränderndes Sicherheitsumfeld“, so wird mit Sorge doch Putins Vorgehen in der Ukraine unterhalb der offiziellen Feindseligkeit gesehen. Von „Russlands hybrider Kriegsführung“ spricht auch von der Leyen. Es ist der offensichtlich erfolgreiche Versuch, Binnenkonflikte so zu steuern und zu instrumentalisieren, dass am Ende das gleiche Ergebnis entsteht, als sei man in den Staat einmarschiert, ohne tatsächlich in Erscheinung zu treten. Das Baltikum ist vor einem solchen Szenario nicht gefeit; auch hier gibt es starke russische Minderheiten.

Die Nato reagiert darauf, indem sie eine 5000 Soldaten starke Speerspitze einer schnellen Eingreiftruppe mit einer 48-Stunden-Bereitschaft schaffen will und vorgeschobene Stabseinheiten demonstrativ in den baltischen Staaten, Bulgarien, Rumänien und Polen stationiert. Deutschland ist mit dabei, denn nach Stoltenbergs Auskunft gilt inzwischen auch in der Nato die Devise: „Was Deutschland tut, das zählt.“

In der Vergangenheit hatten allein die USA diese Rolle. Insofern werden zwei weitere Orte in den nächsten Tagen entscheidend für Krieg und Frieden in Europa: An diesem Wochenende ist es München, wo hochkarätige Sicherheitsexperten mögliche Lösungen durchsprechen und in vertraulichen Verhandlungen ausloten. Und am Montag Washington, wenn Merkel mit Obama über die Reaktion auf Putins Kurs berät.

Leidet Putin unter Asperger?

Eine jetzt erst bekannt gewordene Studie des US-Verteidigungsministeriums aus dem Jahr 2008 behauptet, dass Wladimir Putin unter dem sogenannten Asperger-Syndrom leidet. Das ist eine autistische Entwicklungsstörung, die sich durch eingeschränktes Einfühlungsvermögen und Kommunikationsstörungen ausdrücken kann. Dies bedeute etwa, schreibt das Pentagon, Putin nicht zu Entscheidungen auf großer Bühne zu zwingen, sondern nur im kleinsten Kreis. Der Begriff geht auf den österreichischen Kinderarzt Hans Asperger zurück. kj